Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Experiment

Der Begriff wurde im 17. Jh. aus lat. Experimentum ,Versuch, Probe; Erfahrung‘ entlehnt. E bezeichnet das aktive Eingreifen der empirischen Wissenschaften der Neuzeit in Naturvorgänge im Unterschied zu ihrer bloß passiven Beobachtung. Die Natur wird im E willentlich aus der Reserve gelockt, um hinter ihren Erscheinungen liegenden Wahrheiten der Naturgesetze auf die Schliche zu kommen (vgl. Heidelberger).

Während im Logischen Positivismus oder dem Kritischen Rationalismus (Karl Popper) des 20. Jhs. die kritische Funktion des E zur Überprüfung theoretischer Annahmen in Form der hypothetisch-deduktiven Methode betont wird, sahen Wissenschaftler des 17. (Francis Bacon, Isaac Newton) und des 19. Jhs. (John Stuart Mill) E als wissens-generierende Mittel der Theorieproduktion (Induktivismus). Ganz unabhängig vom epistemologischen Streit um Deduktion und Induktion können wir für das theatrale E festhalten, dass es Bedingungen erzeugt, die normalerweise nicht von selbst eintreten würden.

In jedem E durchläuft eine Kette von Ursachen unser Selbstbewusstsein, dessen erstes Glied – der Willensimpuls der experimentierenden Menschen – bekannt ist. Zu diesen Willensimpulsen gehört auch das bewusste Außerkraftsetzen willentlicher Impulse im ästhetischen Prozess.

Für die Durchführung der E stehen dem Naturwissenschaftler wie auch dem Theaterpädagogen verschiedene Methoden zur Verfügung: die Erfahrungserweiterung, die Phänomenstrukturierung und die Imitation der Phänomene bzw.  Transformation.

Bei der Erfahrungserweiterung geht es darum, Erscheinungen für unsere Erfahrung hervorzurufen, die ohne eine Experimentalanordnung nicht denkbar wären. Der Vakuumpumpe der Physik würde auf theatraler Ebene das kommunikative Vakuum eines dem Alltag enthobenen Spielraumes, z. B. der Bühne entsprechen, in dem die kommunikativen Regeln tendenziell aufgelöst und durch die Spieler neu definiert werden können.

Die Phänomenstrukturierung versucht, den sinnlichen Zugang zu den Wirklichkeitserscheinungen zu verbessern. Dem Fernrohr oder Mikroskop entspräche in theatralen Prozessen die Konzentration auf den Körper, die Erhöhung der Sensibilität auf den Raum und das Verhalten der Mitspieler sowie die Techniken des Einfrierens (Freeze), der Zeitlupe (Slow-motion) oder des Spielens in einzelnen kurzen Handlungsabschnitten zwischen Wende- und Haltepunkten (Takes).

Während in der Physik durch die Transformation eine Beziehung zwischen zwei Phänomenen (beim Thermometer werden dem Wärmesinn zugängliche Phänomene in solche umgewandelt, die dem Gesichtssinn zugänglich sind) hergestellt wird, werden in theatralen Prozessen gefühlte, innere Haltungen in eine äußere Form gebracht und dadurch einem Mitspieler oder Zuschauer mitgeteilt. Sowohl in der Physik wie auch in der theatralen Arbeit können durch die Transformation  irritierende  Zufälligkeiten  oder Außeneinflüsse der jeweiligen Phänomene soweit wie möglich ausgeschaltet werden.

Die Übertragung naturwissenschaftlicher Experimentalforschung auf soziale Phänomene seit Anfang des 20. Jhs. ist unter dem Begriff der Stimulus-Response-Versuche der Verhaltensforschung bekannt geworden. Ausgehend von Tierversuchen wurden in Laborsituationen verschiedene Reiz-Reaktions-Ketten initiiert, die Schlussfolgerungen über das menschliche Lernverhalten geben sollten. Unter soziologischen Aspekten sind statistisch organisierte Befragungen und in neuerer Zeit die sog. qualitative Sozialforschung auf der Grundlage der exemplarischen Einzelanalyse ebenfalls als E anzusehen, da sie die soziale Realität nicht nur beobachten, sondern ihre Erscheinungsformen strukturieren und zu Äußerungen bringen, die ohne das sozialforscherische Interesse und Eingreifen nicht denkbar wären.

In all diesen Formen der sozialen E ist der aneignende subjektive Wille des Naturforschers als vermeintlich am Resultat uninteressierter, objektiver Drittstandpunkt enthalten. Der Experimentator nimmt sich – obgleich nicht unerheblicher, weil eingreifender Bestandteil der sozialen Wirklichkeit – aus dem experimentellen Vorgang heraus und erzeugt Wissen über andere.

Das von Bertolt  Brecht (1931) in Der Dreigroschenprozess beschriebene soziologische E soll die vermeintlich uninteressierte Distanz zu den sozialen Bewegungen überwinden, die es in Gang setzt, indem es den Forscher in den experimentellen Prozess einbettet. „Der Sehende selber lebt ebenfalls, und zwar innerhalb, nicht außerhalb der Vorgänge.“ (Brecht 510) Die wesentlichen Merkmale des soziologischen E – bestehende Anschauungen zu erschüttern; ihre Beziehung zu gesellschaftlichen Interessen zu verdeutlichen; praktisch relevante Erfahrungen zu generieren – finden sich auch in der Lehrstückkonzeption Brechts, die von Reiner  Steinweg  nachträglich  zusammenhängend  als Theorie rekonstruiert wurde (vgl. Steinweg).

Das Lehrstück als soziales E hat das Ziel, ausgehend von einer strengen Form, die Spieler durch die Nachahmung bestimmter Haltungen deren soziale Qualität körperhaft-sinnlich in Erfahrung und ins Spiel zu bringen. Die wechselseitige Beeinflussung innerer und äußerer Haltungen bringt dabei die sozialen  Verhältnisse,  die  im  nichtmateriellen Gestus verborgen sind, sowohl zur Anschauung als auch zum Anlass ihrer phantasievollen Überschreitung. Die sozialen Verhältnisse werden unselbstverständlich und damit reflektierbar in der Formensprache der Lehrstücke. Damit gewinnt der Gestus die experimentell.

Funktion der Erfahrungserweiterung und Phänomenstrukturierung zugleich. In seiner theatralen Gestaltung impliziert der Gestus die Bewusstwerdung als auch die kennzeichnende, strukturierende Hervorbringung der sozialen Verhältnisse, die in ihm schlummern. Hierzu bedient sich das Lehrstück als auch das Epische Theater der Methode der Unterbrechung, die im experimentellen Sinne den sozialen Gehalt der Gesten erst zur Erscheinung bringt und ihre Transformation in sinnliche Gewissheiten auf der Bühne ermöglicht. Die Verfremdung des Spiels im Gestus des Zeigens (V-Effekt) leistet dabei zweierlei: Einerseits gerät der Spieler in ein dialektisches Verhältnis von experimentierendem Subjekt und dem vom E erfassten Gegenstand – andererseits veranlasst die verfremdende Transformation einen Blick auf die doppelte Sinnschicht von Ausdruck und sozialer Bedeutung der gestisch-mimischen Darstellung (vgl. Ritter).

Unter sprach- und geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten sind die theatralen E Brechts von Walter Benjamin unter dem Begriff der „Dialektik im Stillstand“ (Benjamin 28) interpretiert worden. Benjamin erkennt im experimentellen Prinzip der Unterbrechung einer gestischen Handlung die Möglichkeit eines augenblicklichen Heraustretens aus der Eigendynamik einer fortlaufend erweiterten Naturaneignung und Selbstverbesserung des bürgerlichen Subjekts und damit einer Transzendierung seiner Seinsform durch den Rückblick auf die unabgegoltenen Opfer des zivilisatorischen Prozesses (vgl. Koch; Koch u. a.; Ruping).

Das experimentelle Instrument der Unterbrechung und des Stillstands, verknüpft mit dem Mittel des Einspringens (Jump-In-Verfahren) in die demonstrierten Haltungen und ihre Weiterentwicklung durch die Beobachter der theatralen E, wurde von Augusto Boal in seinem Theater der Unterdrückten vor allem in den Formen des Statuen- und Forumtheaters zur Darstellung und Lösung sozialer Unterdrückungszusammenhänge weiterentwickelt (vgl. Boal). Insbesondere sind in Boals Arbeitstechniken die Methoden des Rollentausches, des Doppelns (Verstärkung von Spielerhaltungen durch die Nachahmung seitens anderer Spieler) und des Spiegelns, die von Jacob L. Moreno in seinem Psychodrama-Konzept entwikkelt wurden, eingegangen.

In der thp Theorie und Praxis wurden die Lehrstückkonzeption Brechts und das Theater der Unterdrückten Boals in den 1970er Jahren Ausgangspunkt und Grundlage einer emanzipatorischen Erziehung und Sozialforschung mit theatralen Mitteln (vgl. Ruping  1991).

Zusammen mit der Übersetzung der interaktionistischen Rollentheorie, die ihren gedanklichen Ursprung in der Sozialpsychologie George Herbert Meads (vgl. Mead) findet, in die Spiel-, Theater- und Interaktionspädagogik, wie sie von Hans-Wolfgang Nickel u. a. (vgl. Klewitz u. a.) entwickelt wurde, gewann das theatrale E eine Schlüsselfunktion für eine erkenntnis- und prozessorientierte ThP, die dem wohl immer noch häufig produkt- und textorientierten Amateur- und Schultheater gegenübersteht.

Der Einzug postmoderner Diskurse in die thp Theoriebildung in den 1990er Jahren erzeugte zusammen mit ihren konstruktivistischen Grundannahmen eine gewisse Skepsis gegenüber den gesellschaftspolitisch orientierten sozialen E der ThP. Ihnen wurde der Eigenwert des ästhetisch-künstlerischen Gestaltungsversuches  gegenübergestellt.

Künstlertheorien und die ästhetischen E der Kunst, der Literatur und des Theaters, die mit den Mitteln der Selbstertappung und -überlistung dem dynamischen Mechanismus einer sich verewigenden zweckhaften Selbstverbesserung des Subjekts entkommen wollen, werden weniger als Instrumente der sozialen Emanzipation aufgefasst, sondern vielmehr als selbstreferentielle, autonome Elemente der jeweils besonderen individualästhetischen Selbstbildungsprozesse einer multiplen Subjektidentität begriffen. Hierzu zählen auch alle E des Improvisationstheaters, mit denen die zivilisatorischen Spielblockaden in den Köpfen und Körpern der Spieler gelöst werden sollen (vgl. Johnstone). Eine Vermittlung zwischen beiden Diskurspolen versucht mit dem Begriff der „psychosozialen Erfahrung“ Jürgen Weintz (vgl. Weintz) zu leisten, indem er das Zusammenspiel zwischen intra- und interpsychischen Selbstbildungsprozessen hervorhob.

Einen anderen Ansatz verfolgte das Konzept der diätetischen Askese als experimentelles Lebenskonzept, wie es Michel Foucault in seinem Spätwerk aufgezeigt hat. Unter dem Stichwort Lebenskunst – einem Begriff, der einerseits auf die Äußerung Brechts, dass das Theater zur größten Kunst, nämlich der Lebenskunst beizutragen habe, andererseits auf die Foucaultrezeption Wilhelm Schmids in seinem Buch Philosophie der Lebenskunst rekurriert – sollen in thp-experimentellen Verfahrensweisen Möglichkeiten einer sinnstiftenden, geglückten Lebensführung in den entfremdeten Strukturen der Gegenwartsgesellschaft erkundet werden.

Skeptisch setzt sich Ulrike Hanke mit dem experimentellen Lebenskunst-Konzept auseinander. Die Ausrichtung des thp E auf die geglückte Lebensführung  unterschlage die Negativität,  die  das Subjekt allererst hervorbringe. Es gehe eben auch um die Irritation des experimentierenden Menschen in der Spannung zwischen der Suche nach einem identischen Lebensgefühl und dem Bemerken der eigenen Ungleichartigkeit, die in jenem nicht aufgehen könne (vgl. Hanke).

Die Ausweitung des E-begriffs auf den industriell organisierten Lebensalltag der Menschen im 19. und frühen 20. Jh. wie sie von der Projektgruppe ,Die Experimentalisierung des Lebens‘ (vgl. http:// www.mpiwg-berlin.mpg.de/exp/index.html vom 04.02.2002) vorgenommen wird, überträgt die Kategorien der E-abläufe auf die vermeintlich arbiträr und kontingent erscheinenden Verwerfungen der Lebensorganisation im Industriezeitalter. Unter diesem Blickwinkel erscheinen z.B. die Großstädte als Experimentierfelder für die unterschiedlichsten Lebensversuche, die, losgelöst aus den traditionellen Raum-Zeit-Zusammenhängen der ursprünglichen Solidargemeinschaften von Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Arbeitsbeziehungen, ein Leben im Selbstentwurf möglich erscheinen lassen.

Alle thp E basieren auf dem Paradox, eine intendierte Subjektivität der Beteiligten mit den Mitteln der Subjektentgrenzung oder Intentionslosigkeit zu verfolgen (vgl. Wiese). Unter diesem Gesichtspunkt sind alle theatralen E scharf vom naturwissenschaftlichen Aneignungsinteresse unterschieden. So gestaltet sich in der Form des thp E ein menschlicher Gehalt, der dem Ursprung des E in der Naturwissenschaft und der ihr eigenen technologischen Rationalität entgegensteht und diese zu überschreiten versucht.

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1966; Ders.: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. 1978; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1989; Brandes, Eva/Nickel, Hans-Wolfgang u. a. (Hg.): Beiträge zu einer Interaktions- und Theaterpädagogik. Berlin 1970; Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21. Hg. v. Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1998; Bürger, Peter: Ursprung des postmodernen Denkens. Weilerswist 2000; Finke, Raimund/Haun, Hein: Die Lebenskunst und ich. In: Korrespondenzen, 2000, H. 37; Hanke, Ulrike: Auf der Spur des Subjekts im theatralen Prozess. In: Korrespondenzen, 2001, H. 39; Heidelberger, Michael: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment. In: http://www.information-philosophie.de/philosophie/ experimente.html. 2001; Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Weinheim 1996; Johnstone, Keith: Improvisation und Theater. Berlin 1993; Klewitz, Marion/ Nickel, Hans-Wolfgang (Hg.): Kindertheater und Interaktionspädagogik. Stuttgart 1972; Koch, Gerd: Lernen mit Bert Brecht. Frankfurt a. M. 1988; Ders./Steinweg, Reiner/ Vaßen, Florian (Hg.): Assoziales Theater. Köln 1984; Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt M. 1968; Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986; Ruping, Bernd: Material und Methode. Zur Theorie und Praxis des Brechtschen Lehrstücks. Münster 1984; Ders. (Hg): Gebraucht des Theater. Die Vorschläge Augusto Boals. Erfahrungen, Varianten, Kritik. Lingen, Remscheid 1991; Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt a. M. 1998; Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972; Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Butzbach-Griedel 1998; Wiese, Hans-Joachim: Auf der Suche nach dem Subjekt in der Theaterpädagogik. In: Korrespondenzen, 2001, H. 38.

HANS-JOACHIM WIESE

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