Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Erlebnispädagogik

 

E gilt als junge, noch im Such- und Profilierungsprozess befindliche Teildisziplin der Erziehungswissenschaft (vgl. Ziegenspeck 1994). Als Alternative und Ergänzung zu traditionellen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen zeichnet sie sich vor allem durch ein enges dialektisches Theorie-Praxis-Verhältnis aus. Ausgehend von veränderten Bedürfnissen einer postmodernen Erlebnisgesellschaft, versucht die E mit ihrer Methodik, neue Zugänge zum Menschen zu schaffen. Als das grundlegende Wirkungsprinzip gelten Erlebnisse, die durch aktive, soziale, handlungsorientierte und offene Formen des Erfahrungslernens und mittels angeleiteter Reflexion ins Bewusstsein gelangen (vgl. Fischer u. a.). Dabei soll keine Pädagogisierung des Erlebnisses stattfinden, sondern durch zielgerichtete methodische und didaktische Gestaltung werden Situationen arrangiert, um Erlebnisse zu ermöglichen und deren Weiterverarbeitung zu begleiten. Zu den Grundbedingungen eines erlebnispädagogischen Settings gehören die Situation, die unfertig, unausweichlich, aber überschaubar ist; ferner Körperlichkeit und Unmittelbarkeit des Erlebens (vgl. Witte). Zielstellung ist die Entwicklung individueller, sozialer (und ökologischer) Kompetenzen.

Angeregt durch die Kritik verschiedener reformpädagogischer Strömungen am herrschenden Bildungsund Erziehungscharakter der Lern- und Bildungsschulen entwickelt Kurt Hahn (1886–1972) sein Konzept der ,Erlebnistherapie‘ und gründet 1941 in Aberdovey/Schottland die ,short time school‘ (später Umbenennung in ,Outward Bound Sea School Aberdovey‘, dann ,Outward Bound‘), in der Jugendliche in 26tägigen Kursen Möglichkeiten für Erlebnisse und Bewährungen in einer Umgebung mit spezieller Landschaftsprägung erhalten; hieraus gehen die heutigen (über 40) ,Outward-Bound‘-Schulen hervor. Das gegenwärtige Erscheinungsbild der E ist heterogen: Im 1992 gegründeten ,Bundesverband für Erlebnispädagogik‘ sind über 150 Einzelinitiativen in freier Trägerschaft zusammengeschlossen, verstärkt finden sich auch Angebote zur Aus- und Weiterbildung. Eingesetzt wird E in Jugendhilfe, Jugendarbeit, Behindertenarbeit, Heimerziehung sowie in der Personalentwicklung und Betriebspädagogik (hier auch ,Outdoor-Training‘). Die Programme erlebnispädagogischer Arbeitsfelder gliedern sich in Freizeit, Bildung, Verhaltenstraining und Therapie mit spezifischen Zielkategorien (vgl. Priest). Die Durchführung erfolgt in Kurz- und Langzeitmaßnahmen sowie lebensweltbezogenen Angeboten: Bergwandern, Kajakfahren, Fahrradtouren, Segeln, Skitouren, Höhlenbegehungen; Erlebnisse in der Stadt (z. B. Konfrontationen mit Kontrastsituationen); Klettern, Ropes Course in der Halle.

Die Wirksamkeit der E soll gewährleistet werden durch eine gelungene Reflexion des Erlebten und durch den Transfer der Lernerfahrungen in den Alltag. Mittels zielgruppenspezifischer Programme sowie über den Einsatz von Metaphern wird eine möglichst große Strukturähnlichkeit (Isomorphie) zwischen Alltagsbereich und Kursinhalten angestrebt (vgl. Bacon), die die Diskrepanz zwischen Lern- und Anwendungssituation abbauen und bloßer Urlaubsund Freizeitstimmung entgegenwirken sollen. Entscheidend ist auch die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt. Wirkungsvolle Instrumente der Transfersicherung stellen die aus dem Managertraining entnommenen ,Follow-Ups‘ dar, die zur Nachbereitung eingesetzt werden.

Kritiker (vgl. Oelkers; Brumlik) bezeichnen Angebote der E als nicht effektives Konzept mit ungeklärter Wirkung. Der erlebnispädagogische Ansatz berge in sich selbst zahlreiche Möglichkeiten der Fehlentwicklungen, wie z.B. zur Minimalpädagogik, zur esoterischen Verschmelzung mit der Natur, zum Leistungssport (vgl. Heckmair u. a.), zur Inselpädagogik, zur ,Verschiffung‘ von Jugendlichen mit der Gefahr der Problemverlagerung und Ausgrenzung; zur aufwändigen Symptombehandlung; zum Marketing von Erlebniswelten durch ,Fun‘ und ,Action‘-Anbieter. Weitere Vorwürfe richten sich gegen die Dominanz männlicher Verhaltensformen, die in bestimmten Settings entstehenden autoritären Strukturen, mangelnde Sicherheitsstandards und Gefahren durch nicht beherrschbare Situationen sowie ökologisches Fehlverhalten.

Immer wieder geraten erlebnispädagogische Projekte unter Legitimationsdruck. Der ständigen Konfrontation mit der Kosten-Nutzen-Rechnung und Fragen nach der Wirksamkeit versucht die E durch die Ausweitung empirischer Forschung und theoretischer Fundierung zu begegnen. Anstatt eine sozial- und betriebspädagogische Polarisierung voranzutreiben, könnten beide Stränge durch Verknüpfung ihrer Ansätze voneinander profitieren. Neue Herausforderungen und Möglichkeiten entstehen durch die Ausweitung auf andere Praxisfelder und Zielgruppen (z. B. in der interkulturellen Arbeit oder in ,Anti-Gewalt-Seminaren‘) und im didaktisch-methodischen Bereich durch die Erschließung neuer Erfahrungsräume und Handlungen. Erlebnispädagogische Aktivitäten enthalten auch das Potenzial, durch entsprechende Tätigkeiten Lebensthemen zur Sprache zu bringen (und sie damit zugänglich und bearbeitbar zu machen). „Modernität im Sinne eines erfahrungsbezogenen, situationsoffenen, experimentellen pädagogischen Handelns besteht darin, sich der Lebensdimension der Erlebnispädagogik zu besinnen: neben der Körperlichkeit und Natur also auch der Kunst/Kultur und realer Arbeit.“ (Bauer 52) Erlebnisfähig sein, Lebensfreude zulassen, die Fähigkeiten der eigenen Person zu erkennen und zu entwickeln, darum geht es: „In Wirklichkeit ist jeder, der bewusst lebt, schon sein eigener Erlebnispädagoge. […] Action-orientierte Erlebnispädagogik braucht nicht besser zu sein als gelassene Wahrnehmung von Menschen, welche die Steilwände nicht imGebirge, sondern in ihrem Innern bezwingen“ (Weis 344).

Bacon, Stephen: Die Macht der Metaphern. Alling 1998; Bauer, Hans G.: Annäherung an den Begriff ,Moderne Erlebnispädagogik‘. In: Kölsch, Hubert (Hg.): Wege moderner Erlebnispädagogik. München 1995; Brumlik, Micha: Differenz und Integration. Beiträge der Erlebnispädagogik in Zeiten wachsender Individualisierung. In: Schirp, a.a.O.; Fischer, Torsten/Ziegenspeck, Jörg W.: Handbuch Erlebnispädagogik. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Bad Heilbrunn 2000; Heckmair, Bernd/Michl, Werner: Erleben und Lernen. Neuwied u. a. 2002; Oelkers, Jürgen: Erlebnis als Erziehung oder Erziehung als Erlebnis? In: Paffrath, F. Hartmut (Hg.): Zu neuen Ufern. Internationaler Kongress Erleben und Lernen. Alling 1998; Priest, Simon: Experiential Education. Foundations and Future Directions. In: Paffrath, F. Hartmut/Weis, Kurt: Werden wir in Zukunft mehr oder weniger erleben? In: Kölsch, a.a.O.; Witte, Matthias D.: Erlebnispädagogik. Transfer und Wirksamkeit. Möglichkeiten und Grenzen des erlebnis- und handlungsorientierten Erfahrungslernens. Lüneburg 2002; Ziegenspeck, Jörg W.: Vorbemerkungen. In: Bedacht, Andreas/ Dewald, Wilfried/Heckmair, Bernd/Michl, Werner/Weis, Kurt (Hg.): Erlebnispädagogik. Mode, Methode oder mehr? Tagungsdokumentation des Forums Erlebnispädagogik. München 1994; Ders.: Erlebnispädagogik. Versuch einer Begriffsklärung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. In: Pädagogisches Handeln – Wissenschaft und Praxis im Dialog, 2000,  H. 1.

GABRIELA  NAUMANN

Geschichte der Pädagogik – Kommunikationstraining – Leiblichkeit – Reformpädagogik – Sinnlichkeit – Sportpädagogik – Story Dealer – Theaterarbeit in sozialen Feldern – Zielgruppe – Zirkuspädagogik