Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Didaktik

Am Anfang der modernen Pädagogik im 17. Jh. steht die Große Didaktik des Johann Amos Comenius (1595– 1670). Sie beanspruchte, ,die vollständige Kunst‘ zu sein, ,alle Menschen alles zu lehren‘ und dafür ein umfassendes Regelwerk zur Verfügung zu stellen. Einer Einschränkung dieser umfänglichen Anweisung zum Lehren und Lernen begegnen wir in Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) Formalstufentheorie, deren Artikulationsschema (Aufnehmen, Denken, Verarbeiten, Anwenden) bis weit in das 20. Jh. für den Schulunterricht grundlegend geblieben ist. Heute wendet sich die Reflexion didaktischer Problemstellungen Handlungs- und Strukturfeldern zu, die über schulisches Lehren und Lernen hinausgehend, etwa auf außerschulische Jugendarbeit, Freizeitpädagogik, die verschiedensten Felder der Sozialpädagogik, die Arbeit in der Erwachsenenbildung oder in den Hochschulen Bezug nimmt und sich auch den Fragen einer D sozialer Beratung oder sozialer Gruppenarbeit stellt. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist zunächst die Allgemeine D, die sich mit den allgemeinen institutionellen und organisatorischen Strukturen und den sie hervorbringenden Handlungs- und Verfahrensweisen des Lehrens und Lernens befasst, von den speziellen Fachdidaktiken zu unterscheiden, welche als „die Wissenschaft[en] vom planvollen, institutionalisierten Lehren und Lernen spezieller Aufgaben-, Problem- und Sachbereiche“ (Heursen 588) charakterisiert werden können.

Für die Allgemeine D ist eine Klassifizierung im Hinblick auf ihre Gegenstandsfelder sinnvoll, wie sie Wolfgang Klafki (1970, 64ff.) vorgenommen hat:

D als Wissenschaft vom Lehren und Lernen in allen Formen und auf allen Stufen, zu der sowohl systematisches und gelegentliches Lehren und Lernen, bewusstes und unbewusstes Lernen als auch das Was, d. h. die Inhalte des Lehrens und Lernens sowie das Wie, die Methoden, Organisationsformen und Hilfsmittel zählen (D im weiteren Sinne);

D als Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und verbunden mit den Namen Weniger, Klafki, Derbolav, Scheuerl; der Bildungsbegriff wird zum zentralen Anknüpfungspunkt für die Reflexion pädagogischer Zielvorstellungen, der von den Fragen nach den Inhalten des Lehrens und Lernens nicht zu trennen ist (bildungstheoretische D);

D als Theorie des Unterrichts, die eine möglichst umfassende Beschreibung und Analyse aller am Unterrichtsgeschehen beteiligten Faktoren ermöglichen und die Erkenntnis der durchgängigen wechselseitigen Abhängigkeit dieser Faktoren ermitteln will, mit dem Ziel einer rationalen und kontrollierbaren Unterrichtsplanung und -gestaltung (‚Berliner Schule der D‘, Heimann u. a.);

D als Theorie optimalen Lehrens und Lernens bzw. als Theorie der Steuerung von Lehr- und Lernprozessen (informationstheoretische D): Hier werden Vorstellungen aus der Informationstheorie auf Lehr-LernVorgänge übertragen, unter Ausklammerung prinzipieller Ziel- und Inhaltsfragen (vgl. Cube).

Schaut man sich die im Rahmen dieser Systematik entwickelten Didaktiken genauer an, so fällt auf, dass eine Fülle an Angeboten für Gegenstände, an denen sich Menschen bilden sollen, bereitgestellt, und dass über die unabdingbaren Notwendigkeiten subjektiver Voraussetzungen für den Bildungsprozess trefflich gestritten wird. Merkwürdig blutleer bleiben die Vorstellungen jedoch, wenn empirisch darüber Auskunft gegeben werden soll, wie Akteure in bestimmten Handlungszusammenhängen lehren und lernen bzw. sich unter gegebenen strukturellen Bedingungen bilden. So werden z. B. die Konsequenzen aus Klafkis ‚kritisch-konstruktiver D‘ (1985), seine Überlegungen, wie die ‚neue Allgemeinbildung‘ durch Schlüsselprobleme gefasst werden könnte, um z. B. Problemstellungen der Konflikte zwischen Ost und West, Nord und Süd, zwischen Frauen und Männern, zwischen Arbeit und Freizeit für das Lernen in konkreten Handlungszusammenhängen fruchtbar zu machen sei, von (Fach-)Didaktikern unter Hinweis auf eine unzureichende empirische Zugänglichkeit ‚ganzheitlich‘ figurierter Bildungsprozesse kaum aufgegriffen.

In der Tat ist menschliches Lernen ein äußerst komplexes Phänomen, auf das seit der empirischen Wende in den 1970er Jahren insbesondere die Kognitionspsychologie aufmerksam gemacht hat (vgl. Bromme). Kulturtheoretisch-sozialwissenschaftliche Konzeptualisierungen erweitern diese auf die Subjektseite des Lernens bezogenen Überlegungen, indem sie das Beziehungsgeflecht von Handeln und Struktur in den Blick nehmen (vgl. Reckwitz) und damit insbesondere für das Lehren und Lernen in den Bereichen des Theaters, der Kunst und Musik erfolgversprechende Perspektiven eröffnen. Dazu im Folgenden einige Vorschläge.

Allgemeine und Fachdidaktik haben nach traditionellem Verständnis die Aufgabe zu zeigen, nach welchen Kriterien Inhalte des Lehrens und Lernens ausgewählt und wie diese Inhalte von Akteuren an Novizen vermittelt werden (wer soll was, warum, wozu und wie lehren und lernen). Hiermit sind normative Vorstellungen darüber verbunden, mit welchen Inhalten die Adressaten konfrontiert werden und wie sie sich diese in Anlehnung an das Bild vom ‚Nürnberger Trichter‘ einverleiben. Im Gegensatz zu dieser eher strukturfunktionalistischen Sicht fragen kulturtheoretisch orientierte, empirische Analysen nach den Wissens-, Bedeutungs- und Symbolorientierungen der handelnden Akteure (Lehrende und Lernende) und versuchen, die (Regel-)Strukturen zu rekonstruieren, die von ihnen in den jeweils konkreten Handlungszusammenhängen hervorgebracht oder genutzt werden. Akteure werden im Feld beobachtet, wie sie ihr Handeln als Unterrichtende und Lernende auf der Grundlage ihres je habitualisierten Wissens, ihrer Praxiserfahrungen und verfügbaren symbolischen Kategorien rekursiv hervorbringen und wie sie ihr Handeln interpretieren. Dabei sind Ressourcenverteilungsmuster, Affektstrukturen und unintendierte Handlungsfolgen gleichermaßen relevant und konstitutiv für das Hervorbringen sozialer Praktiken des Lehrens und Lernens.

Als Beispiel sei eine empirische Untersuchung über Musikunterricht angeführt (vgl. Hansmann). Eine Musiklehrerin behandelt in einer Schulklasse des 10. Jahrgangs das Heideröslein von Goethe. Der Lehrplan und ihre eigene Sachanalyse sieht dieses Musikstück als unverzichtbar für ein Konzept musikalischer Allgemeinbildung an. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Wissens- und Deutungsstrukturen und ihren Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen kulturellen Welten muss die Lehrerin jedoch davon ausgehen, dass die Vertonung durch Franz Schubert Symbolwelten repräsentiert, die mit denjenigen ihrer SchülerInnen interferieren. Ihre Aufgabe ist es nun, unter Vermeidung einer lediglich oberflächlichen Anpassung an vermeintliche Abnehmerwünsche (Schülerorientierung), ihren SchülerInnen einen Zugang zum intendierten Ausdrucksund Dokumentsinn des musikalischen Kunstwerkes (vgl. Mannheim) zu eröffnen (,Wofür steht dieses Kunstwerk?‘). Die Strukturierung dieser Aufgabe stellt sich ihr in jeder Schulklasse immer wieder neu und lässt sich nicht ein für allemal lösen. Anders ausgedrückt: Die von der Lehrerin in dem jeweiligen konkreten Handlungsfeld angewandten Regeln weisen angesichts der Komplexität und Veränderungsdynamik pädagogischer Handlungen einen Sinnüberschuss auf, der einer ständigen Reflexion über etwaige Veränderungsfolgen und neue Regelinterpretationen bedarf.

Die Bearbeitung dieses Sinnüberschusses und das Balancehalten zwischen unterschiedlichen Erwartungen z. B. der Lehrpläne auf der einen Seite und der Vorstellungen und Wünsche der ‚Adressaten‘ auf der anderen Seite kennzeichnet die D professioneller LehrerInnen (vgl. Dirks). D erhält durch diese kulturtheoretisch orientierte und ‚praxeologische‘ Betrachtungsweise (die sozialen Praktiken der Akteure stehen im Mittelpunkt) eine neue Blickrichtung: Es geht nicht mehr darum, Normen unterrichtlichen Handelns aufzustellen, sondern zu untersuchen, was im Feld jeweils geschieht und wie die Akteure insbesondere mit strukturellen Anforderungen unter konkreten  Handlungsbedingungen umgehen. Auf diese Weise rücken die Unsicherheiten und Ungewissheiten menschlichen Handelns ins Zentrum didaktischer Überlegungen und geben den Blick frei auf die prinzipiell unendlichen Lerngegenstände und die unerschöpflichen menschlichen Lernzugänge, die noch in jeder Theateraufführung, in jeder musikalischen Improvisation oder bildnerischen Gestaltung zum Vorschein treten und damit den Bildungsprozess (,die reflektierende Urteilskraft‘ nach Immanuel Kant) im Gegensatz zu lediglich instrumentellen Lehr-Lernprozessen (,bestimmende Urteilskraft‘) erst zugänglich machen.

Bromme, Rainer: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In: Weinert, Franz E. (Hg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen 1997; Comenius, Johann Amos: Große Didaktik. Hg. v. A. Flitner. Düsseldorf, München 1959; Cube, Felix von: Die kybernetisch-informationstheoretische Didaktik. In: Westermanns Pädagogische Beiträge, 1980, H. 3; Dirks, Una: Wie werden EnglischlehrerInnen professionell? Münster 2000; Hansmann, Wilfried: Musikalische Sinnwelten und Lehrerprofessionalisierung. Essen 2001; Heimann, Paul/ Otto, Gunter/Schulz, Wolfgang: Unterricht, Analyse und Plan. Hannover 1972; Herbart, Johann Friedrich: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. Weinheim 1959; Heursen, Gerd: Fachdidaktik. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 1. Reinbek 1994; Kant, Immanuel: Über Pädagogik. In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Immanuel Kant. Werke, Bd. 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. 2. Teil. Darmstadt 1968; Klafki, Wolfgang: Funkkolleg Erziehungswissenschaft, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1970; Ders.: Grundlinien kritisch-konstruktiver Didaktik. In: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim 1985; Mannheim, Karl: Wissenssoziologie. Neuwied 1964; Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000.

WILFRIED HANSMANN

Ästhetische Bildung – Deutsch als Fremdsprache – Deutschunterricht – Erlebnispädagogik – Fort- und Weiterbildung für LehrerInnen – Geschichte der Pädagogik – Geschichte der Sozialpädagogik – Kulturelle Bildung – Lebensbegleitendes Lernen – Lernen und Theater – Methodik – Musisch-ästhetische Erziehung  – Reformpädagogik