Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Deutschunterricht

Im D werden vielfältige Formen des Spiels eingesetzt.

„Was den Sprachunterricht angeht, so hat uns die Pragmalinguistik nachdrücklich daran erinnert, wie sehr mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch von Situation und Interaktion abhängen; wie stark Textsorten unseres Alltags geprägt sind von situationsspezifischer Kommunikation. […] Im Literaturunterricht liegt die Notwendigkeit, einen fiktiven Text imaginieren zu können, auf der Hand. Wer einen Roman liest, muss Räume, Menschen, Aktionen plastisch vor sich sehen, muss Geräusche hören, Farben sehen und Gerüche assoziieren können.“ (Renk  18)

Im D hat das Spiel eine lange Tradition. Bis Anfang der  1960er  Jahre  war  vor  allem  das  Darstellende Spiel (Schauspielgruppe, Schulspiel im Sinne von Theater) im D zu finden. Im Literaturunterricht wurden das Stegreifspiel und die Pantomime geübt. Seit den 1970er Jahren kamen dann aus der Psychologie (der Encounter-Sensitivity-Bewegung usw.) und dem alternativen Theater (z. B. dem Boal-Theater) neue Impulse, die zusehends im D, vor allem auch im Lernbereich ,Mündlicher Sprachgebrauch‘, Bedeutung gewannen (vgl. Schuster 1996, 205). Ausgehend von der Rezeptionsästhetik hat sich in den 1970er und 1980er Jahren eine Literaturdidaktik etabliert, die im handlungs- und produktionsorientierten Zugang zur Literatur die Sinnlichkeit und Phantasie, die Gefühle und den Tätigkeitsdrang des Lesers und der Leserin anspricht, aktiviert und dabei auch verstärkt auf theatrale Methoden zurückgreift. Die verschiedenen Formen des Spiels werden einerseits als Methoden, mit denen andere Unterrichtsinhalte erschlossen und vermittelt werden, eingesetzt, andererseits sind sie selbst Gegenstand des Unterrichts.

Das Spiel als Methode der Vermittlung kommt beim Erwerb der Muttersprache und bei der Schulung der kommunikativen Kompetenz im D zum Einsatz. In diesem sprachdidaktischen Bereich werden die sprachliche Kompetenz gefestigt und erweitert, Einsichten in sprachliches Rollenverhalten, in Regeln und Normen im mündlichen Sprachgebrauch erworben, Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung durch Sprache, zu Gefühlsäußerungen und Einsichten in nonverbales Verhalten ( Körpersprache) usw. gegeben (Schuster 1996, 213f.). In einer aktiven Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt und in einem ständigen Rückkoppelungsprozess erprobt das Kind sprachliche Varianten, wobei Phantasie und Kreativität gefordert sind, die durch verschiedene Spielformen – sprachdidaktische Rollenspiele und interaktionistische Spiele – angebahnt und gefördert werden.

Bei dem Verstehen, Erschließen und Interpretieren vor allem von literarischen, aber auch von nichtfiktionalen Texten kommen ebenfalls die vielfältigen Formen des Spiels als Methode zum Einsatz. Die Theatralisierung des Lernprozesses durch ,szenische Gestaltung‘ bietet einerseits die Möglichkeit, entscheidende Textpassagen plastisch werden zu lassen, andererseits dient die Theatralisierung dazu, die Ausdruckskraft und Sinnlichkeit des Körpers und seine in ihm gespeicherten Lebenserfahrungen in der Unterrichtspraxis zu aktivieren. Im Unterschied zum sprachdidaktischen Spiel ist der Text die konstituierende Voraussetzung. Die SchülerInnen müssen sich mit den Situationen, Figuren des Textes identifizieren, können sich selbst aber auch hinter ihnen verstecken. Szenische Gestaltung führt dazu, dass mit Hilfe der sozial-kreativen Phantasie durch die SchülerInnen „im Spielakt der Text neuartig, auch darüber hinausgehend, geschaffen wird“ (Schuster 1996, 224). Zu den literarischen Gegenständen des D zählen alle dramatischen Formen – angefangen vom Kasperletheater über die sog. großen Dramen der Weltliteratur bis hin zu Hör- und Fernsehspielen. Diese Gegenstände werden im D häufig kognitiv-analytisch erschlossen, was natürlich auch ein legitimer Weg der Aneignung ist, doch gehört es zu ihren konstituierenden Wesensmerkmalen, im Spiel realisiert zu werden. Das Drama ist „die dichterische Verdeutlichung eines Geschehens durch Rollenträger. Im Unterschied zu Epik und Lyrik wird das Drama umgesetzt in die Wirklichkeit der Bühne, muss sich also mit dem Theatralischen verschmelzen. Zum Drama gehört neben dem Wort notwendig das Mimische.“ (Braack 117)

In der Dramendidaktik wird in besonderer Weise das ,Selberspielen‘ betont. Der Lerngegenstand Dramatik im D ist in manchen Bundesländern zu einem eigenständigen Schulfach geworden. Insgesamt sind das Spiel und handlungsund produktionsorientierte Verfahren, die theatrale Formen einschließen, aus dem modernen Literaturunterricht nicht mehr wegzudenken.

Schuster unterscheidet zwischen ,traditionellen Spielformen‘ und ,neueren Spielformen‘. Zu den traditionellen Formen zählt er das Stegreifspiel, das Kasperle-, Marionetten-, Masken-, Schattentheater, das szenische Spiel mit dem Schulspiel und Schultheater, die Pantomime,  die  medialen  Formen  des  Hör und Fernsehspiels, die Tanz- und Musikspiele, die Lernund Sprachspiele. Zu den neueren Spielformen rechnet er Selbsterfahrungsund Interaktionsspiele, das sprachdidaktische und literarische Rollenspiel, das Planspiel, Schreibspiele, Spielformen des alternativen, freien Theaters (Schuster 1994, 21).

Folgende Grundsätze sollten beachtet werden: Die Spielfläche wird festgelegt (eventuell Markierung durch einen Kreidestrich). Wer die Spielfläche betritt, verwandelt sich in die darzustellende Person. Das ,Heraustreten aus der Person‘ muss für die Zuschauer sichtbar sein. Die SpielerInnen sollten nicht zu eng zusammen stehen, unter Umständen sogar eine ,Stellprobe‘ vornehmen. Verzichten kann man auf solche Eingriffe immer dann, wenn es um spontane Spielprozesse  geht,  deren  Intention  es  ist,  aus  solchen ,Fehlern‘ zu lernen (beispielsweise beim offenen Rollenspiel).  Auf  Lockerungs-,  Konzentrationsübungen und Warming-up-Spiele sollte nur selten verzichtet werden. Auch die Lehrperson sollte sich selbst einbringen, nicht nur AnleiterIn sein, sondern etwas von sich preisgeben, sich an den Spielprozessen beteiligen.

Der Text/Sachverhalt ist nur Spielanlass, steht selbst nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens. Kognitivanalytische Methoden werden vernachlässigt, die die ästhetischen Strukturen der Sprache erschließen können. Die Lernmethoden bedürfen geduldiger Einführung, da in der Schule die elementare Ebene des Körperlichen oft ungewohnt ist; gerade das Spiel kann diese Körperlichkeit erneut bewusst machen. Diese Bewusstheit ist allerdings auch in Spielprozessen nicht selbstverständlich gegeben, sondern sie erfordert eine wachsame Beobachtung und Wissen um diese Zusammenhänge durch die Lehrenden, die allerdings häufig in ihrer Ausbildung zu wenig für den Einsatz von Spielformen als Lernwege qualifiziert werden. Diese Wachsamkeit ist auch notwendig bei der Betreuung der SchülerInnen, die psychische Schwierigkeiten mit der Verarbeitung bestimmter, im Spiel angeregter Situationen haben. Auch muss sich die Lehrperson ihrer Kompetenzgrenzen sicher sein.

Nach Rumpf werden im Prozess der Zivilisation junge Menschen gelehrt, „den sinnlich-körperlichen Weltaustausch mit seinen nicht recht kalkulierbaren Erschütterungen […] stillzustellen“ und den „Aufbau einer kognitiven Operationsbasis“ zu betreiben – mit dem Ergebnis einer „entsinnlichenden Dynamik des Schullernens“ (Rumpf 6f.). So ist der Unterricht im Lauf der Zeit vielfach „unabhängig geworden von diesen konkreten Menschen mit ihrer privaten Geschichte, ihren Lebenserfahrungen, ihren Ängsten, Hoffnungen, Erinnerungen, Phantasien. Aus diesen Zonen von Individualität darf im Unterricht nur aufsteigen, was die jeweils aufgerufene sprachlich-gedankliche Aktion befördern kann.“ (Rumpf 106) Gerade im Zeitalter sekundärer Medien kommt dem aktiven Spiel eine besondere Bedeutung zu: Kennzeichen für das Eintauchen in die Welt der elektronischen Kommunikation ist die Raum-, Zeit- und Körperlosigkeit, wodurch ein beliebiges Ein- und Ausklinken in neue Situationen, Orte, Themen usw. möglich wird. Komplementär dazu bekommt eine mit allen Sinnen wahrgenommene und leibhaftig gespürte konkrete Kommunikation in einer konkreten Situation neuen Stellenwert und ist für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit bedeutsam (vgl. Zulechner 217ff.). Notwendig ist, „durch bewusste und konstruktivaktive Formen des sozialen Lernens die werdende Persönlichkeit so zu fördern, dass kognitive wie emotional affektive Strukturen dieser Persönlichkeit den Menschen befähigen, im Umgang mit anderen und in Kommunikationsprozessen jene soziale Identität zu erwerben,  die  die  soziale  wie  politische subjektive Handlungsfähigkeit nicht nur zum bloßen Anhängsel der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung verkümmern lässt“ (Gudjons 13).

Abraham, Ulf: Sich ins Spiel bringen. Inszenierung im Kopf und ausgespielter Sinn im Übergang von der Rezeption zur dramatischen Gestaltung fiktionaler Texte. In: Beisbart, Ortwin/Eisenbeiß, Ulrich u. a. (Hg.): Leseförderung und Leseerziehung. Donauwörth 1993; Bark, Joachim/Förster, Jürgen (Hg.): Schlüsseltexte zur neuen Lesepraxis. Stuttgart 2000; Belgrad, Jürgen/Melenk, Hartmut (Hg.): Literarisches Verstehen – Literarisches Schreiben. Baltmannsweiler 1996; Blumensath, Heinz: Ein Text und seine Inszenierung. In: Praxis Deutsch, 1992, H. 115; Braack, Ivo: Poetik in Stichworten. Kiel 1972; Bünting, Klaus-Dieter/Kochan, Detlef: Linguistik und Deutschunterricht. Kronberg/Ts. 1973; Freudenreich, Dorothea/Sperth, Fritz: Stundenblätter. Rollenspiele im Literaturunterricht. Stuttgart 1993; Gudjons, Herbert: Spielbuch Interaktionserziehung. Bad Heilbrunn 1990; Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Seelze 1997; Hinck, Walter: Das moderne Drama in Deutschland. Göttingen 1973; Klinge, Reinhold: Szenisches Interpretieren. In: Der Deutschunterricht, 1980, H. 4; Kochan, Barbara: Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernens. Kronberg/Ts. 1981; Müller, Hans-Dieter: Spielend interpretieren. Zum theaterspezifischen Umgang mit Texten. In: Diskussion Deutsch, 1980, H. 52; Renk, Herta-Elisabeth: Spielprozesse und Szenisches Spiel im Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch, 1986, H. 13; Rumpf, Horst: Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule. Weinheim, München 1994; Rupp, Gerhard: Kulturelles Handeln mit Texten. Paderborn 1987; Schau, Albrecht: Szenisches Interpretieren. Ein literaturdidaktisches Handbuch. Stuttgart 1996; Scheller, Ingo: Szenische Interpretation. In: Praxis Deutsch, 1996, H. 136; Schuster, Karl: Das Spiel und die dramatischen Formen im Deutschunterricht. Baltmannsweiler 1994; Ders.: Einführung in die Fachdidaktik Deutsch. Baltmannsweiler 1996; Spinner, Kaspar H. (Hg): Imaginative und emotionale Lernprozesse im Deutschunterricht. Frankfurt a. M. 1995; Ders. (Hg.): Neue Wege im Literaturunterricht. Hannover 1999; Waldmann, Günter: Grundzüge von Theorie und Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts. In: Hopster, Norbert: Handbuch ,Deutsch‘ für Schule und Hochschule. Paderborn 1984; Zulechner, Felix: Leibhaftige Kommunikation. In: Koch, Gerd/Naumann, Gabriela/ Vaßen, Florian (Hg.): Ohne Körper geht nichts. Milow 1999.

FELIX ZULECHNER

Darstellendes  Spiel  –  Deutsch  als  Fremdsprache  – Drama in Education – Fort- und Weiterbildung für LehrerInnen – Geschichte der Pädagogik – Klassenfahrt als theaterpädagogische Aktion – Minidrama – Stegreif – Theatre in Education