Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Darstellendes Spiel

DS ist eine Bezeichnung für das Schulfach Theater, welches die traditionellen Unterrichtsfächer des Lernbereichs Ästhetische  Bildung,  Kunst  und  Musik ergänzt. Der Begriff DS entstand in den 1970er Jahren, um die Amateurtheaterarbeit in soziokulturellen und pädagogischen Zusammenhängen gegen das professionelle Theater abzugrenzen. Die meisten Spielleiter an Schulen hatten sich bis dahin ästhetisch an traditionellen Inszenierungskonzepten des professionellen Stadtund Staatstheaters orientiert, andere (wie Herbert Giffei) sahen ihre Arbeit eher in der Kontinuität der reformpädagogischen Laienspielbewegung ( Luserke, Mirbt u. a.), deren wichtigste Aspekte im Bewegungsspiel, Rhythmus und in der Gruppenaktion Ausdruck fanden. Im Gefolge der Studentenbewegung wurde in den meisten Bundesländern die Kontinuität der Entwicklung brüchig, Schulspielverbände schliefen ein, ältere Spielleiter fanden keine Nachfolger. Erst Ende der 1970er Jahre wurden an vielen Schulen wieder Theatergruppen aktiv, belebte sich die Diskussion in Lehrergruppen erneut, Schultheaterfestivals auf Länderebene entstanden, Angebin der staatlichen Lehrerfortbildung sorgten für eine Qualifizierung der Spielleiter, einige Bundesländer (Hamburg, Bremen, Berlin) versuchten, das Fach DS im künstlerisch-literarischen Aufgabenfeld der Sekundarstufe  II  über  Probe und Modellversuche  zu verankern.

Der Begriff DS verweist einerseits auf die ,Darstellende Kunst‘ und stellt damit eine Verbindung zu Tradition und Anspruch des Theaters her. Andererseits begrenzt das Wort ,Spiel‘ die Reichweite des Begriffs und trennt das DS von den Produktionsund Verwertungsbedingungen der professionellen Theaterkunst und ihren Institutionen. Es besitzt eine eigenständige pädagogisch-ästhetische Dimension. Darüber hinaus verweist der Begriff des Spiels im DS auch auf die darstellerische Tätigkeit des Laienschauspielers.

Das  DS  ist  heute  ein  wichtiger  Teil  des Schultheaters und hat in manchen Bundesländern die traditionelle Form der freiwilligen Theater-Arbeitsgemeinschaft bereits ersetzt. Im Unterschied zur freieren Form der Arbeitsgemeinschaft im sog. Wahlunterricht ohne Benotung wird DS auf der Grundlage eigenständiger Lehrbzw. Rahmenpläne im normalen Stundenplan der Schule unterrichtet und ist mit Benotung und Leistungsüberprüfung in den Schulalltag integriert. Die gültigen Lehrbzw. Rahmenpläne für die Grundschule, die Sekundarstufe I (Klassen 5–10) und die Sekundarstufe II (10/11–12/13) unterscheiden bei den Lernzielen zwischen ästhetischer Kompetenz (Fachliches Curriculum) und sozialer und persönlicher oder Ich-Kompetenz sowie ggf. ,methodischer Kompetenz‘. Die Didaktik des Fachs geht davon aus, dass diese Kompetenzen in der ganzheitlichen Arbeit an einem Theaterprojekt  erworben  werden können.

Gegenstände des DS sind Wahrnehmung, Gestaltung und Reflexion von Welt unter dem Aspekt der Theatralität (Hamburg) oder das Theater mit seinen Sachgebieten, deren Bereiche und Inhalte wie theatrale Ausdrucksträger, Theaterformen, Organisation und theaterwissenschaftliche Aspekte (Schleswig-Holstein). Es geht zwar primär um eine Auseinandersetzung mit dem Theater als Kunstform, aber DS ist immer auch gleichzeitig ein wesentliches Handlungs-und Erlebnisfeld zur Einübung sozialer Verhaltensweisen und zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Im DS steht das Theaterprojekt einer von einem Spielleiter oder Theaterlehrer angeleiteten Gruppe im Zentrum, das eine Aufführung zum Ziel hat. Die Teilnehmer des Projekts  lernen  im  Prozess  der  Erarbeitung  und Gestaltung einer Theateraufführung, wie Theater entsteht, welche Zeichensysteme es verwendet und wie sie sich des weit gefächerten Ausdrucksmittels Theater bedienen können.

Die moderne ThP geht davon aus, dass Menschen, die Theater spielen, ihre eigene Lebenssituation, ihr Verhalten und ihre gesellschaftlichen Rollen in der Auseinandersetzung mit den fremden Rollen spielerisch reflektieren, sich diese Rollen anverwandeln. Übertragen auf die Schule heißt das, Jugendliche sollten aus dem Zentrum ihres Empfindens und Denkens heraus agieren, also zeitgenössisch, authentisch, präsent, unmittelbar. Im DS haben Selbstausdruck, Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeit und Selbstbewusstsein, Gruppenprozesse und Kooperationsvermögen eine entscheidende Bedeutung, die sich aber nicht aus therapeutischen Verfahren ergibt, sondern aus  der  Arbeit  der  Gruppe  an  der  ästhetischen, künstlerischen Gestaltung einer Bühnenaufführung, die einem erwartungsvollen Publikum erfolgreich präsentiert werden kann.

Wegen der Projekt-, Praxis-, Produkt-, Körper-, Bewegungs- und Schülerorientierung des DS leistet es mit seinen vielfältigen Methoden einen wichtigen Beitrag zur Veränderung von Unterricht und Schule. Formen und Methoden des DS kommen z. B. als ,Szenische Interpretation‘ auch im Literaturunterricht und im fächerübergreifenden Unterricht zum Einsatz, sind aber aus verschiedenen Gründen weder weit verbreitet noch selbstverständlich (defizitäre Ausbildung der Lehrer, Stofffülle der Fächer, räumliche und zeitliche Einschränkungen).

Die Verwendung von Übungen und Spielen aus dem DS für sozialintegrative Zwecke – etwa zur Verbesserung der Klassengemeinschaft und der Gruppendynamik – und zur Prävention (z. B. Gewaltprävention) ist eine aktuelle Tendenz der letzten Jahre. Sprach- und Leseförderung gehören zu den unmittelbaren und zentralen Gegenständen einer ganzheitlich orientierten Theaterarbeit.

Das DS geht mit seinem künstlerischen Anspruch über verwandte Disziplinen wie z. B. das pädagogische Rollenspiel, das Psychodrama, das Schulspiel oder die Jeux dramatiques hinaus, zu denen es aber Beziehungen gibt. Anregungen erhielt das DS aus dem ,Theatre in Education‘ und dem ,Drama in Education‘ in Großbritannien und den Niederlanden, auch aus dem sog. ,Postdramatischen Theater‘ der z. T. ehemaligen freien Theaterszene und der jüngeren Theatermacher. Seine Basis bilden außerdem zentrale Elemente aus Künstlertheorien, besonders Brecht, Grotowski, Stanislawski, Strasberg, Brook, Boal.

Zu den ersten Ländern, in denen Anfang der 1980er Jahre DS als Fach eingeführt wurde, gehören Hamburg, Bayern, Berlin und Bremen, neuerdings haben Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen das Fach eingeführt, manche Länder nur in Schulen mit musischem Schwerpunkt oder in Gesamtschulen, manche unter der Bezeichnung ,Darstellen und Gestalten‘ (Thüringen, NRW), ,Literatur‘ (NRW/Oberstufe), ,Kultur und Künste‘ (Sachsen-Anhalt) oder ,Dramatisches Gestalten‘ (Bayern/Oberstufe). Nur in Baden-Württemberg und im Saarland existiert das Schultheater noch vollständig ohne ein Fachangebot DS, während in Bremen und Hamburg bereits seit langem das Abitur damit bestritten werden kann (DS als 4. Prüfungsfach). Dieser Entwicklung der letzten zwanzig Jahre folgt die Lehrerausbildung für das Fach DS mit einigem Abstand.

Die meisten aktiven Theaterlehrer haben ihre Ausbildung in Form von Fortbildungsreihen oder Weiterbildungsmaßnahmen erhalten. Fast alle Bundesländer bieten seit den 1990er Jahren in der Regel über ihre Lehrerfortbildungsinstitute umfangreiche Weiterbildungen an. Sie werden berufsbegleitend organisiert und umfassen je nach Land zwischen 250 und 450 Ausbildungsstunden, sind allerdings völlig unterschiedlich strukturiert, organisiert und finanziert.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule e. V. (BAG DS) mit Sitz in Frankfurt a. M. bemüht sich seit 1960 in heute 16 Landesarbeitsgemeinschaften (LAGs) um die Verankerung des Schülertheaters im Schulsystem. Die BAG DS initiierte und begleitete mit dem bislang einzigen bundesweiten   Fachforum   und  Schultheaterfestival ,Schultheater der Länder‘ seit 1985 entscheidend den Prozess der Einführung des Fachs DS in den Ländern und der Erarbeitung von Lehrplänen. Das ,Schultheater der Länder‘ ist ein thematisch ausgerichtetes Schultheatertreffen, das jährlich in einem anderen Bundesland je eine Schultheatergruppe pro Land und die Fachleute aus Verbänden und Lehrerfortbildungen zu Aufführungen, Diskussionen und Fachtagungen zusammenführt. Die BAG DS veranstaltet es mit Unterstützung der Körber-Stiftung Hamburg und der Bundesländer aufgrund eines KultusministerkonferenzBeschlusses.

Die BAG arbeitet in der BAG Spiel und Theater, in der BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung) sowie im ,Rat für Darstellende Künste‘ des Deutschen Kulturrats mit. Weitere Kooperationspartner sind der BDAT  (Bund  Deutscher  Amateurtheater),  der BuT (Bundesverband Theaterpädagogik), das ,Theatertreffen der Jugend‘ und das Kinderund Jugendtheaterzentrum in der BRD, außerdem die bundesweiten Fachverbände der Musikund Kunstlehrer.

Die Geschäftsstelle der BAG DS befindet sich unter dem Dach des Schultheater-Studios Frankfurt a. M., dem Theaterpädagogischen Zentrum der Stadt Frankfurt und des Hessischen Kultusministeriums, das DS, Schüler-, Kinder- und Jugendeigenes Amateurtheater im Rhein-Main-Gebiet umfassend unterstützt und fördert. Eines der wichtigsten Beratungsinstrumente des Schultheater-Studios ist der ,TheaterBuchVersand‘, der als einzige Versandbuchhandlung dieses Spezialsortiment betreut und bundesweit  vertreibt.

Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen (Hg.): Theaterspielen in der Schule. Dillingen 1992; BAG DS (Hg.): Fokus Schultheater. Hamburg 2002; BAG DS/Gesellschaft für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft (Hg.): Das Darstellende Spiel an den Schulen, Teil A: Forschungsbericht, Teil B: Expertentagung. München 1992; BAG DS/ Körber-Stiftung (Hg.): Theater in der Schule. Hamburg 2000; Barz, André: Vom Umgang mit Darstellendem Spiel. Berlin 1998; Belgrad, Jürgen (Hg.): TheaterSpiel. Ästhetik des Schul- und Amateurtheaters. Baltmannsweiler 1997; Bericht und Dokumentation der Fachtagung Darstellendes Spiel im Unterricht allgemeinbildender Schulen am 27./28. April 1999. Frankfurt a. M. 1999; Bubner, Claus/Mangold, Christiane: Schule macht Theater. Braunschweig 1995; Golpon, Hedwig/Prinz, Susanne (Hg.): Darstellen und Gestalten. Berichte und Anregungen zu Spiel und Theater in Schule und Hochschule. Milow 1998; Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Weinheim 1996; Kunz, Marcel: Spieltext und Textspiel. Szenische Verfahren im Literaturunterricht der Sekundarstufe II. Seelze-Velber 1997; Lippert, Elinor (Hg.): Theaterspielen. Bamberg 1998; List, Volker: Körper und Raum. Anleitung für ein Theaterprojekt. Wiesbaden 2000; Mai-Schröder, Elke u. a.: Ängstlicher Riese und mutige Maus. Darstellendes Spiel in der Grundschule. Wiesbaden 2000; Reiss, Joachim u.a.: Handreichungen zum Darstellenden Spiel. Wiesbaden 1994; Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin 1998; Schlünzen, Wulf: Werkstatt Schultheater. Zur Didaktik und Methodik. Sekundarstufen I und II. Hamburg 1998; Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (Hg.): Lebendiges Schultheater. Handreichungen zum Grundkurs Dramatisches Gestalten. Donauwörth 1995.

Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule e. V.: www.bagds.de; info@bagds.de

Schultheater-Studio Frankfurt: Hammarskjöldring 17a, 60439 Frankfurt a. M., Tel.: 069–21232044, Fax: 069–21232070;

www.schultheater-studio.de; schultheater@gmx.net;

TheaterBuchVersand (TBV) im Schultheater-Studio Frankfurt a. M.

JOACHIM REISS / GUNTER MIERUCH

Ausbildung  –  Bewegungserziehung  –  Didaktik  – Festival der Amateur- und Schultheater – Geschichte der Pädagogik – Geschichte der Sozialpädagogik – Reformpädagogik – Schulmusical – Spiel