Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Bühnenräume

Oskar Schlemmer beschreibt den besonderen Ort Bühne als einen spannungsgeladenen Kunstraum, der das bewusst Geformte verlangt: „Die leere Bühne! Sie wissen, mit welcher Spannung man darauf wartet, was geschieht. Die geringste Kleinigkeit, ein Punkt, ein Laut wird in die Sphäre des Bedeutsamen gerückt. Die Erscheinung des Menschen wirkt wie ein Naturereignis.“ (Schlemmer)

Die Betrachtung unterschiedlicher Bühnenformen ist besonders in Bezug auf die Zuordnung von Bühne und Publikum interessant. Was bedeutet eine Bühnenform für das Spiel und für das Rezeptionsverhalten der Zuschauer?

Die Arenabühne besteht aus einem kreisförmigen Tanzplatz, der Orchestra, dem Aktionsfeld für den Chor. Dieses wurde zu zwei Dritteln umschlossen vom Theatron, den am Berghang gelegenen und damit steil ansteigenden Sitzplatzreihen. Das Dionystheater an der Akropolis von Athen fasste 17 000 Zuschauer. Den Zuschauern gegenüber befand sich die einstöckige Skene. Sie beherbergte Kostüme, Masken und Requisiten. In ihr hielten sich die Schauspieler, Statisten und das technische Personal auf. Aus drei Türen konnten die Schauspieler auftreten. Seitlich wurde das Bühnenhaus durch vorspringende Paraskenien abgeschlossen. Der Übergang von der Skene zur Orchestra wurde durch eine flache Bühne und zwei bis drei Stufen als der Aktionsraum der Schauspieler gebildet. Das Flachdach des Bühnenhauses, das Theologeion, wurde für Götterauftritte genutzt. Das Dionysosfest dauerte sechs Tage. An vier aufeinanderfolgenden Tagen wurde ganztägig Theater gespielt.

Die Zuschauer saßen einander gegenüber; gespielt wurde am Tag, man sah sich und durchlitt gemeinsam die tragischen Ereignisse. Es wurde keine Illusion aufgebaut, sondern etwas in einer sehr ausgestellten Spielweise vorgeführt, vergrößert noch durch Masken und Kothurne. Man sah gemeinsam aus dem ungewöhnlichen Blickwinkel von oben auf die Bühne. Indem die Zuschauer die Orchestra umgaben, nahmen sie teil, waren Teil des dort agierenden Chors. Das Theater am Hang gab über das niedrige Bühnenhaus hinweg den Blick frei in die Weite und Größe der Landschaft und des Himmels.

Im Mittelalter wurden die Spieler aus der Kirche verbannt wegen der Drastik ihrer Darstellungen auch bei sakralen Spielen. Sie spielten in Buden auf Holztribünen und Dekorationswagen. Überliefert ist uns die Anlage von Valenciennes, eine langgestreckte Bühnenanlage aus plastisch gebauten symbolischen Orten für Himmel und Hölle und ‚realen Orten‘, z. B. der Palast des Pilatus. Gespielt wurde simultan; die Zuschauer gingen von Station zu Station. Sie folgten dem Geschehen, setzten es für sich zusammen, indem sie durch ihre Bewegung die Zeitfolge in die simultan gespielten Szenen – etwa der Passionsgeschichte – bringen. Die Möglichkeit zur Bewegung, zum schnelleren Weitergehen oder zum Verharren liefert sie dem Bühnenspiel nicht aus.

In der Kultur des Barock gewann das Theater eine zentrale Rolle. Es entwickelten sich vielfältige Theaterformen. Mit Hilfe der Guckkastenbühne und ihrer ausgeklügelten Maschinerie war es möglich, die Welt, den Himmel und die Hölle darzustellen. Dies gelang dank der perspektivischen Entdeckungen und einer raffinierten Bühnenmalerei mit großer Überzeugungskraft. Bühne und Zuschauerraum trennten  sich.

Das Orchester, das sich zwischen Bühne und Zuschauer schob, verstärkte diese Trennung. Das Proszenium rahmte die höher gelegene Bühne wie ein Bilderrahmen das Bild. Die perspektivische Wirkung wurde durch hintereinander gestaffelte Kulissen, deren Bemalung die zunehmende Verkleinerung als Mittel nutzte, erreicht. Hinzu kam ein Abschlussprospekt, die leichte Schrägung des Bodens und die abgetreppten Suffitten.

Die erhöhte Guckkastenbühne mit dem dunklen Zuschauerraum führt zu einer strikten Trennung zwischen Bühnengeschehen und Zuschauern. Die Schauspieler spielen miteinander, haben es aber schwer, den Zuschauer mit in ihr Spiel einzubeziehen. Die Zuschauer nehmen einander nicht wahr; jeder einzelne ist konzentriert auf die Bühne, taucht ein in das Geschehen – so sehr, dass Bertolt Brecht fürchtete, es könne darüber das Nachdenken vergessen werden (‚Glotzt nicht so romantisch!‘).

Die Guckkastenbühne ermöglicht ein sehr differenziertes und vergleichsweise leises Spiel. Bei guter technischer Ausstattung können die wunderbarsten Illusionen erzeugt werden. Durch Dekoration und Beleuchtung lassen sich nuancenreiche atmosphärische Bilder herstellen, Tiefenräume vortäuschen und schnelle Bildwechsel ermöglichen – eine Bühne zum Zaubern und Verzaubern.

Als Nachteil wurde im 20. Jh. die Distanz zwischen Bühne und Zuschauern empfunden. Bei Beibehaltung des Grundmusters sind viele Versuche unternommen worden, diese Distanz zu überwinden, z.B. durch eine intensive Bespielung der Vorbühne, Thematisierung der Rampe oder durch eine geringere Betonung des Proszeniums. Die Vorschrift des eisernen Vorhangs, der die Bühne vom Zuschauerraum aus Brandschutzgründen trennt, setzt diesen Bemühungen allerdings Grenzen.

Da man im 20. Jh. die Festlegung auf eine Bühnenform als ungenügend empfand, entwickelte Walter Gropius für Erwin >Piscator das ,Totaltheater‘, das die unterschiedlichen Bühnenformen miteinander vereint und zusätzlich Projektionsflächen für das neue Medium Film bereitstellte. Leider ist dies aufwändige Projekt nie gebaut worden.

Aus der Einsicht, dass die Zuordnung von Bühne und Publikum für das Spielgeschehen sehr bestimmend ist, wurden Theaterräume für die jeweilige Aufführung völlig neu eingerichtet – so bei George Taboris  Theaterlabor  in  Bremen,  aber  auch  bei Inszenierungen der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer oder der Berliner Volksbühne. Um dies auch bei einem Repertoirebetrieb mit vielen Zuschauern zu ermöglichen, baute man für die Berliner Schaubühne in ihrem neuen Haus am Lehniner Platz einen Raum, der in drei Segmente schalldicht teilbar ist, um unterschiedliche Raumgrößen zu ermöglichen. Es können so auch mehrere Vorstellungen gleichzeitig stattfinden. Die gesamte Bodenfläche ist mit 76 Scherenhubpodien aufgeteilt, die, hydraulisch angetrieben, schnelle Veränderungen der Bodenhöhen erlauben. Gestaffelte Zuschauerräume oder Bühnenlandschaften können mittels Knopfdruck-Befehl gebaut werden. Die Decke besteht aus einem von oben begehbaren Gitterrost. So lassen sich an jeder Stelle Beleuchtungseinrichtungen oder Punktzüge befestigen.

Im Bremer Kinder- und Jugendtheater ‚moks‘ wird nur mit einem leeren Raum gearbeitet. Bewegliche Zuschauerpodeste ermöglichten immer wieder neue Zuordnungen von Zuschauern und Bühne. Bei ansteigenden Zuschauerpodesten kann auch ebenerdig gespielt werden. Ein schwarzer Raum, wie im Studio ‚Spiel und Bühne‘ an der Universität Osnabrück, erlaubt den wirkungsvollen und gezielten Einsatz von Licht. In einem hellen Raum entstünde zu viel (störendes) Streulicht.

Für die Einrichtung von B, z. B. für die Schule im Zusammenhang mit dem Unterrichtsfach Darstellendes Spiel ist ein leerer, möglichst hoher schwarzer Raum, ausgestattet mit genügend Podestmaterial zum Bau von Bühnen oder Zuschauertribünen zu empfehlen. Metallrohre unter der Decke, verteilt über den ganzen Raum, dienen der Befestigung von Scheinwerfern und der Bühnendekoration. So kann für jedes Projekt die Entscheidung über die Gestalt der Bühne und damit über die Zuordnung von Zuschauerraum und Spielfläche neu getroffen werden.

Baur-Heinhold, Margarete: Theater des Barock. Minden 1966; Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Reinbek 1986; Schlemmer, Oskar: Über die Bühnenelemente. In: Kunsthalle Baden-Baden (Hg.): Bild und Bühne. Baden-Baden 1965.

PETER STEINEKE

Bildertheater  –  Bühnenbild  –  Bühnentechnik  – Illusion im Theater – Zimmertheater