Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Bibliodrama

Die Ursprünge des B liegen in den kreativen Aufbrüchen der 1970er/80er Jahre, seine strukturellen Wurzeln reichen u. a. zurück bis in das mittelalterliche geistliche Spiel (vgl. Martin 2001, 105ff.; Aldebert 54ff.). Zeitgleich mit dem aufkommenden Interesse an Transzendenz und Spiritualität unter Theaterschaffenden  und  Schauspielensembles  (z. B.  Peter  Brook, Jerzy  → Grotowski,  das  Odin  Theatret)  entdeckten christliche Gruppen das freie szenische Spiel wieder neu. Es versprach, die ,Wirklichkeit Gottes‘ in ihren politischen, sozialen, emotionalen und spirituellen Dimensionen unmittelbarer erfahrbar zu machen. Wie in vielen Ansätzen der humanistischen Psychologie (Gestaltpsychologie, Bioenergetik) und im Körpertheater, spielte auch hier die Körperarbeit als Form der Selbst- und Welterforschung eine entscheidende Rolle (vgl. Delakova; Martin 2001, 25ff.; Kessler 69ff.; Teichert 58). Zum B-Boom kam es dadurch, dass Menschen mit verschiedenen Interessenschwerpunkten biographischer, therapeutischer und religiös-theologischer Art die Möglichkeit sahen, einer seit der Reformation lebendigen Utopie einige Schritte näher zu kommen, nämlich als theologische Laien das Auslegungsmonopol des biblischen Textes zu sprengen. An der Basis von Kirchengemeinden und Kommunen und auf B-Konferenzen und -Workshops legen sie seitdem milieuübergreifend und mit dem Material der eigenen Lebensgeschichte biblische Texte szenisch aus und lassen sie so Gegenwartsbedeutung gewinnen.

B trägt gegenwärtig nicht nur zu einem interkonfessionellen Dialog unter skandinavischen, ost- und mitteleuropäischen Christen bei (vor allem in den Konferenzen der Evangelischen Akademie Segeberg und des Burckhardthauses Gelnhausen), sondern bietet auch Wege interreligiöser Verständigung zwischen Juden, Christen und Muslimen (z. B. Aldebert 379ff.; Krondorfer). B-Techniken werden wieder rückgeführt in die strukturverwandte Inszenierung  von  Gottesdiensten (vgl. Martin 1998, 50ff.), sie werden weiterentwickelt in religionspädagogischen (z. B. Warns), psychotherapeutischen (z. B. Rotschild u. a.) und spielästhetischen Projekten (Playing Arts).

Trotz aller Verschiedenheit ist für das klassische B die folgende Form grundlegend: B ist ein offener, szenisch-dramatischer Gruppenprozess zwischen einem – in der Regel – biblischen Text und den Spielerinnen und Spielern. Ziel des szenischen Spieles ist es, die individuellen und überindividuellen Erfahrungen der Teilnehmenden und die in der Bibel verdichteten Wirklichkeiten  im >Spiel  aufeinander  zu  beziehen und wechselseitig zu erschließen. Die Spielenden schärfen zunächst durch Körperarbeit ihre Wahrnehmung für sich selbst im Medium des eigenen Leibs, für die Geschichte und für die Themen des Textes. Dann treten sie in verschiedenen – aus dem eigenen Rollen-/ Körper-/Selbst-/Kollektivbewusstsein  erwachsenden– szenischen Improvisationen in die Darstellung und Verkörperung des Textes ein. Um die Improvisationen anzubahnen, unterstützt die Gruppenleitung die Teilnehmenden auf ihrer Suche nach den Strukturen und Spielregeln, nach der ,Partitur‘ (Grotowski 243f.), die dem Text selbst innewohnt. Dazu benutzt er je nach persönlichem Bildungshintergrund schauspiel- und bewegungspädagogische, psychodramatische oder ästhetisch bildnerische Techniken. So provoziert er durch Formvorgaben und Spielregeln die schöpferische Auseinandersetzung der Spielenden. In der Laborsituation des B kommen im Unterschied zum Bibeltheater die Szenen lediglich innerhalb des Prozesses zur Darstellung (vgl. Grasmück 24ff.; Rohrer). Die Handelnden und Betrachtenden schließen den B-Prozess ab, indem sie Stationen der szenischen Arbeit gemeinsam reflektieren, in der Regel im Medium der Sprache. Die Teilnehmenden setzen ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Spiel zur Wirklichkeit und Bedeutung des biblischen Textes in Beziehung, statt sie wie im  Psychodrama  wesentlich  nur  auf  die  eigene Person in der Gemeinschaft zu beziehen.

B ermöglicht den Teilnehmenden einerseits einen emanzipatorischen „Zugang zur eigenen Pluralität“ (Pohl-Patalong 526) und verspricht andererseits eine differenzierte Integration des Selbst in Gemeinschaft auf der Basis einer geistlichen Autorität, dem biblischen Text. B-Praxis, die Auseinandersetzung mit im Text überkommener Glaubenserfahrung, führt unweigerlich zur Frage nach ,Gott auf der BibliodramaBühne‘ (vgl. Martin 2001). Die Antworten bewegen sich zwischen der Abwesenheit Gottes als Bedingung der Möglichkeit einer Verkörperung bzw. Inkarnation Gottes im Rollenspiel einerseits und der faktischen Anwesenheit eines ,dunklen‘ Gottes im Mythos, von dem die Spielenden gespielt werden, andererseits (vgl. Laeuchli). Die Frage ist nur dialektisch zu beantworten: „Das, der oder die Absolute ist im Bibliodrama nur situativ ,anwesend‘, zugleich aber prinzipiell unverfügbar, unaussagbar, unspielbar, so merkwürdig das klingt.“ (Teichert 16)

Aldebert, Heiner: Spielend Gott kennenlernen. Bibliodrama in religionspädagogischer Perspektive. Hamburg 2001; Delakova, Katja: Beweglichkeit. Wie wir durch Arbeit mit Körper und Stimme zu kreativer Gestaltung finden. München 1984; Friedrich, Marcus A.: Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik. Stuttgart 2001; Ders.: Spielen als spielten wir nicht Epische und dramatische Wandlungen – Ein schauspielästhetischer Beitrag zur Bibliodrama-Kritik. In: Hoffmann, Klaus: Spielraum des Lebens, Spielraum des Glaubens. Hamburg 2001; Grasmück, Heinz: Choralgraphisches Theater. Die liturgische Dramaturgie und ihre Iszenierung. In: It’s the same but different. Dokumentation des 2. Europäischen Bibliodramakongresses 1996 im Burckhardthaus. Gelnhausen 1997; Grotowski, Jerzy: Für ein Armes Theater. Berlin 1994; Kessler, Hildrun: Bibliodrama und Leiblichkeit. Leibhafte Textauslegung im theologischen und therapeutischen Diskurs. Stuttgart 1996; Kiehn, Antje u. a.: Bibliodrama. Stuttgart 1991; Krondorfer, Björn: Body and Bible. Interpreting and Experiencing Biblical Narratives. Philadelphia 1992; Laeuchli, Samuel: Mimesis – Das Spiel vor dem dunklen Gott. Ein Beitrag zur Entwicklung des Bibliodramas. Neukirchen-Vlyn 1987; Martin, Gerhard Marcel: Zwischen Eco und Bibliodrama. Erfahrungen mit einem neuen Predigtansatz. In: Garhammer, Erich/Schöttler, HeinzGünther: Predigt als offenes Kunstwerk. München 1998; Ders.: Sachbuch Bibliodrama. Praxis und Theorie. Stuttgart 2001; Pohl-Patalong, Uta: Bibliodrama – Zur gesellschaftlichen Relevanz eines Booms. In: Praktische Theologie, 1996, 85; Rohrer, Fritz: Bibeltheater. Frankfurt a. M. 1985; Rotschild, Evelyn/Laeuchli, Samuel: Jesus und der Teufel. Begegnung in der Wüste. Imagination, Spiel und Therapie in der Versuchungsgeschichte. Neukirchen 1992; Teichert, Wolfgang: Wenn die Zwischenräume tanzen. Theologie des Bibliodramas. Stuttgart 2001; Warns, Else Natalie/Fallner, Heinrich (Hg.): Bibliodrama als Prozess. Leitung und Beratung. Bielefeld 1994.

MARCUS A. FRIEDRICH

Bewegungserziehung – Geistliche Spiele – Körpersprache – Magie – Szenische Interpretation – Theatre in Education – Werkstatt