Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Bewegung

B erfährt auf dem Theater eine sich kontinuierlich wandelnde, unterschiedliche Gewichtung und Bedeutung. Diese geht mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutungswandel von Körper, B, Zeit und Raum einher (vgl. z. B. Nitschke; Jurké). Steht die B noch im 18. Jh. ganz im Dienste der Verkörperung eines Textes, einer Rolle, so wandelt sich ihre Bedeutung und die des Körpers im 20. und 21. Jh. immer mehr zur Selbstthematisierung hin, ohne ihre Funktion der Verkörperung gänzlich einzubüßen (vgl. Fischer-Lichte 15).

In der ThP ist B vor allem ein Sich-Bewegen als künstlerisch-ästhetische B; ähnlich dem Sprechen ist es also strukturiert, gestaltet, mit Sinn behaftet, Ergebnis von schöpferischer Mimesis und produktiver Konstruktion. B steht nicht isoliert, sondern in engem, wechselwirkendem Zusammenhang mit den anderen Theaterkonstituenten (Sprache/Sprechen, Zuschauer, Raum usw.). Künstlerisch gestaltete B zielt auf Wirkung (Darstellung und Ausdruck), ist sinnvolle Handlungsgestalt  in  einer  szenischen  Situation und damit zeichenhaft und kontextuell bedeutsam. B im Sinne von Verkörperung von etwas (Rolle, Text) wird als  sinnlich-symbolische Interaktion,  in  bewusster Abgrenzung zum Diskursiven als präsentative Symbolbildung mit eigenem Erkenntnispotenzial begriffen (vgl. Bernd 39ff.).

Im thp Kontext ist bewegungs- und erkenntnistheoretisch eine ganzheitlich-synthetische Sicht auf menschliche B einer ,reinen‘ Außenoder Innensicht vorzuziehen, da die Verkörperung, der Körper des Spielers in B zentrales Ausdrucksmittel innerhalb eines komplexen theatralen Handlungsgefüges ist. Phänomenologische, anthropologische, symboltheoretische, gestalttheoretische Sichtweisen auf B sowie die tätigkeitsorientierte Psychologie (vgl. speziell auf Schauspiel bezogen Hoffmeier) und die Handlungstheorie scheinen geeigneter als naturwissenschaftliche, behaviouristische, physikalisch-biomechanische Ansätze, weil die erstgenannten Ansätze mindestens eine psychophysische Verschränktheit innerer und äußerer B annehmen oder im Gestaltkreismodell Viktor von Weizsäckers von einer unauflöslichen Ganzheit von Wahrnehmung und B ausgehen. Sie rücken so die Subjektivität,  die  Individualität,  die  Leiblichkeit und Sinnlichkeit als zentrale Themen von menschlicher B verstärkt in den Blick.

Physikalische Erkenntnisse können dennoch begrenzt genutzt werden, wenn es in ästhetischer Absicht um Objektbewegungen auf der Bühne geht, um B physikalischer Körper, etwa in Formen des Bilder -und Objekttheaters  oder  im  Theater  mit  neuen Medien und der adäquaten Technik.

Strukturkenntnisse über B-abläufe (vgl. z.B. Meinel) sind für ästhetische Prozesse und Entscheidungen und die damit verknüpften Wirkungsvarianten notwendig und  nützlich  (vgl.  z. B. Meyerholds  Otkas,  Pasyl, Stoika in Bochow 98ff.). Isoliertes Beobachten von B-qualitäten wie Rhythmus, Dynamik, Präzision, Elastizität, Übertragung, Fluss, Kopplung, Harmonie ist aber unter rein technischem Aspekt wenig sinnvoll. Dagegen gilt das Interesse der szenisch-ästhetischen Qualität und dem fiktiven Zusammenhang. Im Sprechtheater beispielsweise wird die Rolle, die Figur, die Szene mehr oder weniger ausgeprägt mit dem Mittel der dramatischen B gestaltet (auch im postdramatischen Theater, vgl. Lehmann). B steht im Dienst der schauspielerischen Handlung und Wirkung oder wird im postdramatischen Theater, das stärker performativ arbeitet und seine Mittel selbstreflexiv verwendet, selbst zum Thema.

Im Zuge der Bedeutungszunahme des Körperund B-diskurses in den Kulturwissenschaften beteiligt sich auch die Theaterwissenschaft an diesem Diskurs, indem sie ,Verkörperung/embodiment‘ als eine kulturwissenschaftliche Leitkategorie anerkennt (vgl. FischerLichte 20) und die theatral orientierte Tanzforschung in ihre Untersuchungen mit einbezieht (vgl. Jeschke 1 a.). Bernd, Christine: Bewegung und Theater. Lernen durch Verkörpern. Frankfurt a. M. 1988; Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997; FischerLichte, Erika (Hg.): Verkörperung. Tübingen 2001; Hoffmeier, Dieter: Stanislawskij. Auf der Suche nach dem Kreativen im Schauspieler. Stuttgart 1993; Jeschke, Claudia/ Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Bewegung im Blick. Berlin 2000; Jurké, Volker: Der Körper lügt! Zur Bedeutung der Körperarbeit in der Theaterpädagogik. In: Korrespondenzen, 2002, H. 40; Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M. 1999; Meinel, Kurt: Bewegungslehre. Abriß einer Theorie sportlicher Motorik unter pädagogischem Aspekt. Berlin 1975; Nitschke, August: Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte. Zürich 1989; Weizsäcker, Viktor von: Der Gestaltkreis. Stuttgart 1950.

VOLKER JURKÉ

Bewegungserziehung   –   Biomechanik   –   Performance  –  Sportpädagogik  –  Tanzpädagogik