Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Altentheater

Die Lebensumstände einer Generation, in diesem Fall die der Alten, sind nicht oft Gegenstand öffentlicher Theaterkunst. Konflikte zwischen den Generationen, ja, aber beherrscht wird die sog. Altersfrage von den Veränderungen der Familienstrukturen, dem Wandel des Wohnumfeldes und den Versorgungsproblemen alter Menschen, die innerhalb der Familie nicht mehr umfassend gelöst werden können. In nicht allzu langer Zeit wird die Zahl der Einpersonenhaushalte in den Städten die der Mehrpersonenhaushalte überschreiten, ein Hinweis auf die Vielen derer, die nicht Familien gründen sowie auf die Anzahl derer, die im Alter allein leben wollen oder müssen. Die daraus folgende gesellschaftliche Diskussion konzentriert sich auf Rentenkosten und Pflegeumstände. Alter wird heute als Problem wahrgenommen, als Einschränkung der geistigen und körperlichen Möglichkeiten des Einzelnen und meint nur noch die Abweichung vom Normalen, vom Erwachsensein.

Die Kultivierung der Jugendlichkeit, die Kompetenzen alter Menschen wie Erfahrung, Abgeklärtheit und Reife für diese Gesellschaft nicht zu nutzen weiß, tut ein Übriges dazu, um das Theaterspiel alter Menschen ins exotische Abseits zu rücken und mit dem Hautgout der sozialpädagogischen Beschäftigungstherapie zu versehen.

Die Wirklichkeit ist eine andere. Nach einer ersten Welle in den frühen 1990er Jahren erfährt das A wieder zunehmendes Interesse. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand. Die Zahl der alten Menschen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wächst sprunghaft, die Alterspyramide kehrt sich um und die Zahl der über Fünfundsechzigjährigen beträgt bald 30 Prozent. Dieser Umstand verlangt Konzepte zur Aktivierung, zumal eine Generation das Seniorenalter erreicht, die zu den aktiven Mitgestaltern dieser Gesellschaft gehört und sich nun als Alte nicht in den Ruhestand begeben will, auch woopies (well off older people) genannt. Der Begriff des Unruhestandes, geprägt von der Seniorenaktivistin Trude Unruh und der Partei Die Grauen Panther gewinnt aktuelle Bedeutung. Aus diesen Zusammenhängen heraus wird Theater als aktive Freizeitgestaltung, als Ort und Sprache derer, die sich ausdrücken wollen und die Haltungen der Gemeinsamkeit mitzuteilen wünschen, Bestandteil einer aktiven Altenkultur.

Die phantasievollen Namen der A-gruppen, die vornehmlich von jungen TheaterpädagogInnen zu theatralem Schaffen angeleitet werden – der Begriff betreut wäre in diesem Zusammenhang unangemessen –, sind bereits Programm. Zentren des Seniorentheaters sind in Köln im dortigen Freien Werkstatt Theater zu finden, in Bremen mit verschiedenen Gruppen in soziokulturellen Zentren und Volkshochschulen, Die Knitterfreien, seit vielen Jahren in Berlin mit dem Theater der Erfahrungen, das zahlreiche Theaterprojekte initiiert hat wie Die Spätzünder, Graue Zellen, Ostschwung, Die Herzschrittmacher und Rheumas Töchter. Eine eigene Bühne ist eingerichtet in Mülheim an der Ruhr durch das dortige Theater Spätlese mit den Mülheimer Seniorentheatertagen, weitere Gruppen bestehen u.a. in Braunschweig, Altweibersommer, in Lingen beim dortigen Thp Zentrum, Restrisiko, und in Hildesheim, Alt und Jung, mit dem zukunftsweisenden Konzept, mehrere Generationen in einer Gruppe zu integrieren.

Die thp Abteilungen einiger institutionalisierter Theater erprobten zeitweise A-Projekte, so Wilhelmshaven und Tübingen, auch das Thalia Theater, das Schauspielhaus in Hamburg und die Städtischen Bühnen Nürnberg, Tempo 100. Bundesweite A-Festivals, wie Später Putz in Berlin, Seniorentheaterfestivals in Frankfurt am Main und das Welt Altentheater Festival in Köln waren Ausdruck der Energie und Vielfalt dieser Gruppen. Die Nachbarländer Österreich und Schweiz verzeichnen ebenfalls eine lebendige A-Szene bis in die Theaterwissenschaft in Wien hinein, auch Italien, Dänemark und die Niederlande.

Der Bundesarbeitskreis Seniorentheater im Bund Deutscher Amateurtheater macht sichtbar, wie das bislang selbstverständliche Zusammenwirken aller Generationen auf der Bühne durch Aufgliederungen in Kinder-, Jugend- und Seniorentheatergruppen ergänzt wird, sicher auch Ausdruck einer Generationenverschiebung der Aktiven.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Wandlungen des Begriffs von Seniorentheater zu A – auch etliche der heutigen A-gruppen bezeichneten sich noch vor einiger Zeit als Seniorentheater – von einem sozialtechnologisch geprägten Begriff aus den 1970er Jahren mit ihren Harmonisierungsbemühungen hin zu einer Neubewertung des Begriffs Alte mit seinen Tendenzen zu Ehrlichkeit und Klarheit bis hin zu Elementen des Konflikts der Generationen (vgl. Glaser u. a. 12).

Mit der Entstehung des Begriffs ThP und seinem Konzept, die gemeinsamen inhaltlichen Interessen der aktiv Beteiligten zum Gegenstand zu machen (in diesem Falle die Situation von Alten in der Gesellschaft), entstand auch eine Ästhetik des A. Kunst- und Kulturpädagogen leiteten Gruppen von Alten an und ermöglichten so den Zusammenhalt und eine thp professionelle Distanz, Flexibilität und Kontinuität. Im A wird das soziokulturelle Grundkonzept – Künstler arbeiten mit Laien – Wirklichkeit. TheaterpädagogInnen, die neue ästhetische Vorgehens- und Darstellungsweisen mit nichtprofessionellen Spielern erprobt haben, konfrontieren und erweitern die in der Regel erst einmal konventionellen und trivialen Vorstellungen vieler Akteure mit ihren Vorstellungen einer zeitgenössischen ThP. So entwickelte sich aus diesem Zusammenwirken ein eigener ästhetischer Ausdruck des A. Herkömmliche Rollenpsychologisierungen reduzieren sich zugunsten chorischer Formen, ironische Kommentierungen kommen hinzu, dokumentarische und biographische sowie selbstverfasste Texte bestimmen die Textvorlagen; methodische Vorgehensweisen, die alle Beteiligte in den Schaffensprozess einbeziehen, werden in den szenischen Formen sichtbar.

Im Mittelpunkt steht so die genaue, beispiel- und bildhafte sowie poetische Darstellung der Lebensbedingungen und -erfahrungen der Alten. Ausgehend vom Erfahrungsschatz der Einzelnen werden gesellschaftliche Bezüge herausgefiltert und bestimmen die Themen und Geschichten des A: die Qualität der Lebenserfahrung, neu erfahrene Spielfreude und Offenheit, die Überwindung von Einsamkeit und Alleinsein, Kontaktsuche (,Wanderfreudige Sie sucht nichtrauchenden Gesellen‘) und Lebensumstände in der Heimunterbringung. Lange Zeit in den Hintergrund gedrängte Begriffe wie Vitalität des Alters und Recht auf Lebensglück werden eingefordert und theatral veröffentlicht. Wesentliche Impulse erfährt in den 1990er Jahren das A zudem durch Methoden und Präsentationen der oral history, beeinflusst durch die Sozialpädagogik im angloamerikanischen Raum und das Age Exchange Theatre aus London. Die Zeitzeugenschaft der Beteiligten wird gelebte Geschichte.

Eine lange Zeit war das A in Form und Inhalt durch diese Herangehensweise bestimmt. So entwickelten sich auf den Bühnen vielfach und immer wieder Geschichten aus den Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit und aus dem Umgang der Eltern- und Großelterngeneration mit der Zeit des Nationalsozialismus. Gelegentlich allerdings reduzierten sich diese Formen historischer Aufarbeitung auf Kaffeeklatschkolportagen unter dem Motto Weißt du noch und Früher war alles eigentlich auch nicht so schlecht oder Was haben wir gelacht. Kooperationen mit politischen Jugendgruppen und Projekten sowie mit der professionellen Sozialarbeit und Psychologie waren hier hilfreich und schärften politische Bewusstseinsvorgänge. Daran schlossen sich Themen an, die Tabus dieser Generation formulierten, so etwa Liebe und Sexualität im Alter (Vater will wieder heiraten).

Immer wieder aber sind Anlehnungen zu finden  an – und damit Missverständnisse und Verwechselungen vorprogrammiert – Formen des konventionellen Volkstheaters, etwa das ,Ohnsorgtheater‘ oder auch Bauerntheater. Eine theatrale Denk- und Spielweise, die Tabus nutzt, dieselben aber eher bestätigt. Der Begriff des Amateurtheaters beinhaltet die ,Liebe‘ zu dem ,anderen‘ professionellen Theater und sieht erst einmal nur eine unkritische Imitation dessen vor. Aus dieser Haltung entsteht dann gelegentlich ,großes‘ Theater, das sich an opulenten, überdramatisierten Darstellungsweisen orientiert oder auch an Abbildern konventionellen Schauspiels, den heute alten Aktiven aus ihren Theaterbesuchen der Jugendzeit bekannt – und damit natürlich aus längst vergangenen Zeiten. Andere A bezeichnen sich als Laientheater und betonen mit dieser Bezeichnung ganz devot das bewusst Ungekonnte, eben Laienhafte. Ein Streben nach einem theatralen Können und der Suche nach den Möglichkeiten des eigenen ,gekonnten‘ Ausdrucks und nach einem Begriff von Kunst ist hier nicht beabsichtigt.

A, Theater von und mit Alten, will sich deutlich von diesen Konventionen unterscheiden und sieht sich in seinen inhaltlichen und ästhetischen Ausformungen auf einer Linie mit den zeitgenössischen thp Projekten und Produktionsweisen anderer Kinder-, Jugend- und Erwachsenengruppen. Neuere Entwicklungen zeigen erste Schritte in eine andere Richtung, nämlich heraus aus dem sicher zeitweise notwendigen Biotop der Abgrenzung, Spezialisierung und Selbstversicherung hin zu einem Theater, das die Generationen wieder an einem Tisch und auf der Bühne versammelt.

Bittner, Eva/Kaiser, Johanna: Graue Stars. 15 Jahre Theater der Erfahrungen. Freiburg i. Br. 1996; Glaser, Hermann/ Röbke, Thomas (Hg.): Dem Alter einen Sinn geben. Wie Senioren kulturell aktiv sein können. Heidelberg  1992.

THOMAS LANG

Authentizität – Narratives Interview