Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Aleatorik

Als künstlerisches Verfahren entsteht die A nach dem traumatischen Erlebnis des 1. Weltkriegs als Opposition zum logozentrischen Weltbild der Moderne und ihrem Subjektbegriff. In den Avantgardebewegungen der künstlerischen Intelligenz der ersten Hälfte des 20. Jhs. liegen die Wurzeln der heute postmodern genannten Zivilisationskritik (vgl. Bürger).

Abgeleitet von lat. alea: Würfel, und aleator: Würfelspieler ist die A eine ästhetische Gestaltungspraxis, die dem Zufall einen breiten Raum gibt, um Zustände  der Intentionslosigkeit der Akteure zu erzeugen und Subjektgrenzen aufzulösen. Die Spieler/Künstler vertrauen improvisierend den Impulsen, die von zufällig entstandenen Strukturen der Wahrnehmung ausgehen.

Da der impulsfolgende Interpretations- und Gestaltungsvorgang assoziativ über die Entdeckung von Ähnlichkeiten erfolgt, handelt es sich um direkte Formen der mimetischen Aneignung von Erfahrungen der Vergangenheit auf der Grundlage einer entdisziplinierten Phantasietätigkeit, die nicht mehr in Zweck-Mittel-Relationen operiert, sondern von der Zweckrationalität enthobene Impulsketten erzeugt, deren vorläufiges Resultat ungewiss ist. Der aleatorischen Arbeitsweise entspricht Pablo Picassos Aussage, dass er nicht suche, sondern finde. A kann somit als eine Methode der ergebnisoffenen Experimente angesehen werden.

Unter semiotischen Gesichtspunkten erzeugt die A bedeutungsoffene, vieldeutige ästhetische Zeichen, die auf ihre eigene impulsgebende Materialität verweisen. Da in ihrer Produktion keine Bedeutung angestrebt wird, sind sie zunächst reiner Ausdruck oder ästhetischer Wert, in dem sich die Spieler/Künstler neu entdecken können. A ist damit konstitutiver Bestandteil eines kommunikativen Vakuums im ästhetischen Prozess, der es den Spielern/Künstlern ermöglicht, in Form der ekstasis subjektentgrenzend aus sich selbst herauszutreten. Die dabei entstehenden Gestaltungsspuren führen im Unterschied zur logozentrischen Weltaneignung nicht zur Verfügung über das, was sich im jeweils Anderen zeigt, sondern zur unmittelbaren, zweckfreien Anschauung (vgl. Lévinas) mit dem „Begehren eines Begehrens nach der Sicht, das zugleich das Begehren nach einer Antwort enthält“ (Mersch 99). Was in der A zur Anschauung kommt, kann als die Entdeckung der entscheidenden Augenblicke, der rational kaum zu erklärenden Erschütterungen der Beteiligten gelten; Momente, die Roland Barthes mit dem Begriff kairos bezeichnet (vgl. Barthes).

In der thp Praxis können aleatorische Arrangements durch das Freeze-Verfahren gewonnen werden. Die zufällig entstehenden Tableaus, Taferele oder Statuengruppen bilden dann den Ausgangspunkt von interaktiven Impulsketten der Spieler, die in Form von Takes, das sind kleine Bewegungseinheiten zwischen Drehund Haltepunkten (vgl. Jenisch), gewonnen und fixiert werden können.

Die Überwindung kulturtechnisch erworbener Spielblockaden in der freien Improvisation greift ebenfalls auf aleatorische Techniken zurück, die die Spieler überraschen sollen, um dadurch die ersten reaktiven Affekte zulassen zu können. Keith Johnstone nennt drei wichtige Hemmnisse der Spontaneität des Spiels: die Angst vor verrückten (psychotischen) Gedanken, die Angst, obszöne Gedanken zu zeigen und das Streben nach Originalität (vgl. Johnstone). Während die ersten beiden Hemmungen als Kulturblockaden leicht erkannt werden können, bietet die letzte einen gewissen Problemstoff, da das theatrale Spiel häufig mit der Entfaltung von Subjektivität und ihrer Unterscheidbarkeit assoziiert wird.

Tatsächlich erfordert aber das theatrale Spiel gerade die Absehung von der intentional gebundenen Subjektbildung und damit die – sich im geselligen Spiel – entgrenzende Subjektivität. Für eine aleatorische Improvisation ist es notwendig, dass die Spieler sich den unkalkuliert einstellenden Impulsen in der Gruppe öffnen, sie an sich herankommen lassen und als Spielangebot realisieren. Was sich in solchen improvisierten Spielsituationen zeigt, ist oft das noch unbewusste, aber eigentliche Gestaltungsinteresse der Spieler.

WalterBenjamin  hat  die  plötzliche  Unterbrechung einer Spielhandlung, wie sie den aleatorischen Arbeitsweisen entspricht, „Dialektik im Stillstand“ (Benjamin 28) genannt. Er sieht eine Parallele zum messianischen Augenblick der jüdischen Religion, in dem nicht mehr die Absicht gilt, sondern die Präsenz des momenthaften Tuns – eine Art A in Gestalt der Religion.

Aleatorische Arbeitsweisen passen eigentlich nicht zu intentionalen Lernprozessen, wie sie die Erziehungseinrichtungen unserer Gegenwartsgesellschaft von Lehrenden und Lernenden erwarten. Postmoderne pädagogische Diskurse, die in der ästhetischen Produktion wichtige Erziehungselemente erkennen können, haben dazu die Haltung der abwartenden, beobachtenden Pädagogik entwickelt (vgl. Lenzen).

In der ThP gewinnt dieser subjektorientierte Prozess eine soziale Qualität, da die aleatorisch gebildeten Impulsfolgen als Interaktionsketten der beteiligten Spieler auftreten. In diesem Sinne wäre Platons methexis als Teilhabe der Individuen an der ihnen selbst innewohnenden Wahrheit auch nicht mehr Selbstrealisation, sondern die Verwirklichung einer sozialen Dimension des Spiels, in der die Schatten Platons ihre Idee in ihrer sozialen Bewegung finden würden. Das Höhlengleichnis wäre damit materiell gewendet.

Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a. M. 1990; Benjamin, Walter: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. 1978; Bürger, Peter: Ursprung des postmodernen Denkens. Weilerswist 2000; Jenisch, Jakob: Ich selbst als ein anderer. Der Darsteller und das Darstellen. Grundbegriffe für Praxis und Pädagogik. Berlin 1996; Johnstone, Keith: Improvisation und Theater. Berlin 1993; Lenzen, Dieter (Hg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? Darmstadt 1990; Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1983; Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002.

HANS-JOACHIM WIESE

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