Aus der Erkenntnis heraus, dass dem Fach Theaterpädagogik bis dato eine systematische Beschäftigung mit der eigenen Geschichte und Forschungen zu den Quellen der ausdifferenzierten Methodenarsenale völlig fehlte, wurde 2003 am Institut für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück/ Campus Lingen ein Forschungsprojekt mit dem Namen „Archäologie der Theaterpädagogik“ ins Leben gerufen, das von Frau Prof. Dr. Marianne Streisand geleitet wurde.
Als zunächst einziges Projekt bundesweit wurde dort systematisch auf dem Gebiet der Geschichte der Theaterpädagogik geforscht. Bis 2019 fanden mehrere wissenschaftliche Tagungen, Ausstellungen, eine große internationale Konferenz statt. Zahlreiche Bücher, Zeitschriftenartikel und Dissertationsprojekte sind daraus hervorgegangen. Es ist über verschiedene Module eng mit der Lehre im Studiengang Theaterpädagogik verbunden. 2007 konnte aus diesem Projekt heraus der Aufbau des „Deutschen Archivs für Theaterpädagogik“ an der Hochschule Osnabrück/ Campus Lingen in Angriff genommen werden.
Methodologisch ging man dabei aus von dem in den Kulturwissenschaften durchaus etablierten Verfahren einer kulturhistorischen Archäologie, das sich wesentlich an die Namen Michel Foucault, Walter Benjamin und Sigmund Freud knüpft. Das geschah aus dem Grunde, als hier (1.) auf gedankliche Verfahren und auf ein forscherisches Design zurückgegriffen werden konnte, nach denen Geschichte aus einem aktuellen Interesse heraus befragt wurde; (2.) Geschichte nicht als ein Kontinuum von fließenden Übergängen, sondern von radikalen Brüchen, Verwerfungen und Diskontinuitäten aufgefasst wurde und (3.) kein archäologisches Schichtenmodell zugrunde gelegt wurde, bei dem Schicht um Schicht abgetragen und nach immer früheren Stufen der Ausformungen eines einzigen theaterpädagogischen Arbeitsraums gesucht wird, um endlich zu dem einen eigentlichen und „wahren“ Ursprung zu gelangen. Der (Re-)Konstruktionsversuch einer linear sich fortschreibenden, eindimensionalen Geschichte der Theaterpädagogik wurde von vornherein ausgeschlossen. Demgegenüber erschien uns das Denkmodell einer archäologischen Gleichzeitigkeit produktiver, nach der simultane und heterogene Fundstücke freigelegt und auf die Topographien der Fundorte bezogen werden konnten.
Um sich einer Geschichte der Theaterpädagogik zu nähern, musste zunächst zwischen Wort und Phänomen, zwischen Begriffsgeschichte und Phänomengeschichte unterschieden werden. Zur Wortgeschichte wurden in den ersten Publikationen dieses Projekts Untersuchungen unternommen. Die Theaterpädagogik in der Gegenwart zeichnet sich durch eine große Mannigfaltigkeit und Heterogenität ihrer Methoden, Zugänge und Einsatzgebiete aus. Bei beinahe allen diesen Verfahren und Arbeitsgebieten kann man unterschiedliche geschichtliche Quellen und historische Verlaufsformen feststellen. Es gibt nicht eine Wurzel der Theaterpädagogik, sondern die Besonderheit der Theaterpädagogik heute macht ein Geflecht verschiedenartigen Herkommens aus. Will man die Art der Vernetzung oder Kommunikation der Einsatzorte, Methoden und Arbeitsfelder der Theaterpädagogik untereinander beschreiben, so fällt auf, dass sie relativ wenig hierarchisiert und auch in sich wenig einheitlich sind. Es gibt keine zentrale Methode, kein einheitliches Arbeitsgebiet im deutschsprachigen Raum, an dem sich die anderen orientieren, sondern von beinahe jedem Gebiet, jeder Methode her führen Linien zu andern Gebieten, andren Methoden. Auch existieren keine feststehenden Beziehungen oder Ordnungen zwischen den mannigfaltigen Feldern, sondern eher wechselnde, dezentrale Allianzen. Will man ein Denkbild für dieses Geflecht heranziehen, so ist hier am ehesten auf das von Deleuze/ Guattari schon 1980 entworfene Bild des „Rhizoms“ zurückzugreifen:
„Im Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien verweist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel. Das Rhizom […] besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet […] Das Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen und zerrissen werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien des Rhizoms weiter fort“ (Deleuze, Gilles/ Félix Guattari 1997: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin. S. 35/36 und S. 19).
Aus einem so verstanden geschichtsphilosophischen Background sind der überwiegende Teil der Forschungsarbeiten entstanden.